Robert Musil. Ein Mann ohne Eigenschaften?
139. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft
am 15.04.02 von Dr. Christoph Hönig (Gastvortrag)
Meine These lautet: "Der Mann ohne Eigenschaften" ist ein ironischer und zugleich utopischer Roman.
1. Heute vor 60 Jahren starb Robert Musil während
des Zweiten Weltkriegs vereinsamt und verarmt in Genf.
Seine Frau streute die Asche in die Rhone. Es gibt kein
Grab. - Musils Hauptwerk, "Der Mann ohne Eigenschaften",
ist mit über zweitausend Seiten dicker als die Bibel.
Übrigens auch Thomas Manns Roman "Joseph und seine
Brüder" ist ein episches Werk "von unmodisch langem Atem"
(T. M.) und umfasst ebenfalls über zweitausend Seiten.
Der Romanzyklus von Proust "Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit" bietet gar das Doppelte: über viertausend
Seiten. - Musils Jahrhundertroman gehört zur Weltliteratur,
aber er wird wohl zu wenig gelesen. Denn dazu gehört
etwas Mut wie zum Entschluss zu einer Weltreise.
Aber es lohnt sich für Menschen, die das geistige
Abenteuer lieben und suchen.
2. Wer war Robert Musil? Geboren wurde er 1880 in Klagenfurt.
Zur gleichen Generation gehören Thomas Mann (1875),
Hermann Hesse (1877), Franz Kafka (1883), Hermann Broch
(1886). - Musil stammte aus einer altösterreichischen
Beamten-, Gelehrten-, Ingenieurs- und Offiziersfamilie.
Er studierte an der Technischen Militärakademie Wien,
brach seine Offiziersausbildung ab und wurde
Maschinenbauingenieur. Nach einer Tätigkeit als Assistent
an der TH Stuttgart studierte er 1903-08 in Berlin
Philosophie, Mathematik, Physik und
experimentelle
Psychologie und promovierte mit einer
erkenntnistheoretischen Dissertation über Ernst Mach
zum Dr. phil. Im Roman "Der Mann ohne Eigenschaften"
werden aus diesem etwas sprunghaften und vielfältigen
Werdegang des Autors Ulrichs "drei Versuche, ein
bedeutender Mann zu werden" (S. 37 ff.): zuerst Leutnant,
dann Ingenieur und schließlich - als "der wichtigste
Versuch" - Mathematiker und Naturwissenschaftler.
Musil selbst verzichtete auf eine Universitätslaufbahn,
um freier Schriftsteller zu werden. 1911-14 war er
Bibliothekar, 1914 Redakteur der "Neuen Rundschau".
Im Ersten Weltkrieg war er Landsturmhauptmann an der
italienischen Front, Herausgeber der "Soldatenzeitung"
und zuletzt im Kriegspressequartier. 1918-22 lebte er
als Beamter in Wien, danach arbeitete er als freier
Schriftsteller, Theaterkritiker und
Essayist in Wien und Berlin. Nach dem "Anschluss"
Österreichs
emigrierte er nach Zürich. Die letzten Lebensjahre
verbrachte er mittellos in Genf, bis zuletzt
an seinem unvollendeten Lebenswerk arbeitend. - Musil
war ein Wienhasser und hat etwa neun Jahre in Berlin
gelebt. Hier hat er Philosophie und Psychologie studiert
und promoviert. Etwa drei Jahre hat er am Kurfürstendamm
gewohnt und hier am "Mann ohne Eigenschaften" gearbeitet.
(Eine Tafel an der Wand des Astorkinos weist darauf hin.)
3. 1906 erscheint in Berlin sein erster Roman "Die
Verwirrungen des Zöglings Törleß". An der von der
Kritik bewunderten realistischen Psychologie dieser
Pubertätsstudie, einer der ersten dieses Genres (im
gleichen Jahr erschien Hesses "Unterm Rad"), war ihm
wenig gelegen. Die seelischen Verwirrungen und sexuellen
Perversionen, die hinter der Fassade eines exklusiven
k.u.k. Internats sichtbar werden, dienen Musil als
Forschungsmaterial für die sein ganzes Lebenswerk
bestimmende Erkenntnis, wie leicht überschreitbar die
Grenze zwischen der nur scheinbar soliden rationalen Welt
und einer geheimnisvollen irrationalen anderen Welt ist.
In der verwirrenden Erfahrung des jungen Törleß liegen
beide so nahe beieinander wie die von Zucht und Ordnung
geprägte Welt des Konvikts und dessen geheime rote
Dachkammer, in der er sich mit den Diktatoren seiner
Klasse zu grausamen Experimenten an einem Mitschüler
trifft. Dieser Einbruch des Irrationalen deutet voraus
auf die kommenden Diktatoren und deren methodische
Vergewaltigung des Einzelnen. - 1966 wurde der schmale
Roman verfilmt von Schlöndorf.
4. 1911 erscheinen zwei Erzählungen, zusammengefasst unter
dem Titel "Vereinigungen". 1921 erscheint sein
Schauspiel "Die Schwärmer". Hier werden
lockende und extreme
Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und einer
erweiterten Wirklichkeitserfahrung gestaltet, die
auch als ironisches Echo auf den "Seelenlärm" der
Expressionisten zu verstehen sind. 1924 veröffentlicht
Musil die Novellen "Drei Frauen".
5. 1930 erscheint der l. Band von Robert Musils Hauptwerk,
der Jahrhundertroman "Der Mann ohne Eigenschaften".
Etwa zur gleichen Zeit erscheinen die berühmten Werke:
Döblin: "Berlin Alexanderplatz" (1929), Hesse: "Narziß
und Goldmund" (1930), Zuckmayer: "Der Hauptmann von
Köpenick" (1931) und Broch: "Die Schlafwandler"
(1931). - 1933 veröffentlicht Musil dann den 2. Band des
"Mannes ohne Eigenschaften" mit dem Untertitel "Ins
Tausendjährige Reich. Die Verbrecher" - eine völlig
unbeabsichtigte Provokation im Jahr der
nationalsozialistischen Machtergreifung! -, 1938 werden
alle seine Werke in Deutschland verboten, 1943
veröffentlicht Musils Witwe einen 3. Band in der Schweiz
im Selbstverlag, seit 1952 taucht Musil aus der
Vergessenheit auf in Frisés Ausgabe der Werke, 1978
erscheint die umfangreichere revidierte Ausgabe mit
dem offenen fragmentarischen Teil.
6. Gehen wir gleich medias in res und lesen einmal das 1.
Kapitel. Erste Kapitel sind ja oft Expositionen wie im
Drama, sie können in nuce den ganzen Roman enthalten.
Nur eins vorweg: Musil hat sich nun vorgenommen: "Hell,
luftig, einräumend schreiben!" (Zitieren S. 9 ff.)
7. Wer ist Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften? Er ist
32 Jahre alt und erstaunlicherweise "ein Mann mit
allen
Eigenschaften, aber sie sind ihm gleichgültig" (Kap. 40).
Dies ist die erste von zwei Bedeutungen des
Titels "Mann ohne Eigenschaften". Aber was bedeutet das
genauer? - "Man ist früher mit besserem Gewissen Person
gewesen als heute." Denn "es ist eine Welt von
Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne
den, der sie erlebt." "Wahrscheinlich ist die Auflösung
des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so
lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat,
aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist,
endlich beim Ich selbst angelangt" (S. 154). Die
Eigenschaften, die sich als moderne Beliebigkeit z.B. im
Geschreibe der Medien verselbständigt und von der Person
gelöst haben, sind dem Helden nur im ironischen Sinne
"gleichgültig". In Wirklichkeit, so heißt es, wartete er
"hinter seiner Person [...], und seine ruhige, dahinter
abgedämmte Verzweiflung stieg mit jedem Tag höher"
(S. 264). Darum nimmt sich der 32-Jährige kurz
entschlossen "ein Jahr Urlaub vom Leben", um nach
einem verantwortbaren Verhältnis zu seinen
Eigenschaften zu suchen. Ihm wird klar, "dass nur eine
Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des
rechten Lebens" (S. 263). Solch einen Satz, so einen
Grundsatz werden Sie bei keinem zeitgenössischen
Schriftsteller finden. Das ist allein Musils Denken
und Dichten.
8. Wo spielt der Roman? Im Vorkriegs-Österreich, der
königlich-kaiserlichen Monarchie, die Musil
Kakanien
nennt. (Der erfundene Name erinnert übrigens auch an
griechisch "kakós" = schlecht, untauglich.) Er beschreibt
Kakanien so: Dies war ein "Staat, der sich selbst irgendwie
nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig
im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz".
Eben deshalb ist Kakanien in doppeltem Sinne der
"fortgeschrittenste Staat": Weil hier nämlich, in einem
"besonders deutlichen Fall der modernen Welt", die
Auflösung der Wirklichkeit am weitesten fortgeschritten
ist, kann sich hier auch am ehesten ein schöpferischer
"Möglichkeitssinn" entfalten, der die Wirklichkeit "als
Aufgabe und Erfindung behandelt". - Im Zentrum des 1.
Buches steht die sogenannte "Parallelaktion". Unter
diesem Decknamen verbergen sich die Vorbereitungen
hochgestellter Persönlichkeiten, die das für 1918 zu
erwartende 70-jährige Regierungsjubiläum des
"Friedenskaisers" Franz Josef gegenüber dem gleichzeitigen
bloß 30-jährigen Kaiser Wilhelms II. zum Ausdruck
bringen wollen. Ohne dass sie es selbst bemerkten,
werden all ihre scheinbar nur komischen Bemühungen
um eine "erlösende Idee" in den begeistert begrüßten
Ausbruch des Weltkrieges 1914 münden. Und das
geplante "Weltösterreichjahr" 1918 wird sich
ironischerweise als das des Zusammenbruchs beider
Monarchien erweisen.
9. Wer spielt mit? Die Personenkonstellation. Ein
ironischer
"Zusammenhang der Dinge" zeigt sich in der Parallelität
der Bestrebungen aller Personen des Romans. Sie
verkörpern in verzerrten Spiegelungen die Versuche Ulrichs,
eine sinnvolle Verwendung für seine Eigenschaften,
d.h. "das Gesetz des rechten Lebens" zu finden. Nur
unter diesem Aspekt sind die scheinbar disparaten
Personengruppen miteinander verbunden. Die wichtigsten
Figuren außer den Geschwistern Ulrich und Agathe sind
Ulrichs Jugendfreunde Walter und dessen von der
Erlösungsidee besessene Frau Clarisse, die sich magisch
zu dem unzurechnungsfähigen Frauenmörder Moosbrugger und
dem "Propheten" Meingast hingezogen fühlt. Hauptfiguren
der "Parallelaktion" sind Ulrichs Cousine, die Wiener
Salondame Diotima, und Ulrichs "Freundfeind" Arnheim,
deren "Seelenroman" ironisch das mystische Liebesabenteuer
der Geschwister Ulrich und Agathe spiegelt, sowie Graf
Leinsdorf und (als komische Figur) General Stumm. Sodann
der Personenkreis um Bankdirektor Fischel mit seiner
Tochter Gerda und ihrem völkischen Freund Hans Sepp
sowie die beiden Pädagogen Hagauer (Agathes ehemaliger
Gatte) und der "Tugut" Lindner.
10. Meine These lautet: "Der Mann ohne Eigenschaften" ist
ein ironischer und zugleich utopischer Roman.
- Aber
zunächst einmal: Was heißt hier Ironie? Klar:
Ironie,
die kennt doch jeder. Im situativen Kontext versteht
jeder die alltägliche Wendung: "Das hast du ja wieder
großartig gemacht." Oder: "Du bist mir ja ein schöner
Freund." Das Literaturlexikon erklärt, dass der Ironiker
"sich zum Spott der gegnerischen Wertmaßstäbe bedient".
Und: "Die Ironie ist der Ausdruck einer Sache
durch ein deren Gegenteil bezeichnendes Wort. Sie ist
eine Waffe der Parteilichkeit." Berühmtestes Beispiel:
"Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann", heißt es in der
Rede des Marc Anton in Shakespeares "Julius Caesar".
Ich nenne sie die rhetorische Ironie. - Aber in der
Literatur gibt es noch eine andere Art der Ironie: die
Ironie im höheren Sinne, die Ironie sensu
eminentiori,
wie Kierkegaard sie in seiner Doktorarbeit nennt.
Berühmt geworden ist auch die romantische Ironie
als grundsätzlicher ironischer Standpunkt, als Haltung
der Welt gegenüber, als Grundkonzeption eines ganzen
literarischen Werkes. Bei der Ironie im höheren Sinne
darf es sich nicht, wie Jean Paul mit Recht sagt, um
"einen bloßen Tauschhandel des Ja gegen das Nein und
umgekehrt" handeln. Kierkegaard erklärt: "Die Ironie
im strengeren Sinne richtet sich nicht gegen das eine
oder andere einzelne Daseiende, sie richtet sich gegen
die ganze zu einer gewissen Zeit und unter gewissen
Umständen gegebene Wirklichkeit. [...] Nicht diese oder
jene Einzelerscheinung, sondern das Ganze des Daseins
wird von ihr sub specie ironiae betrachtet." (Diss. S.
14) Musils Jahrhundertroman ist in diesem höheren Sinne
ironisch - und nicht, wie manche meinen, satirisch.
Warum? Musil spricht im Blick auf seinen "Mann ohne
Eigenschaften" in einem "Vermächtnis" ausdrücklich
von "konstruktiver Ironie": "Ironie ist: einen
Klerikalen
so darstellen, dass neben ihm auch ein Bolschewik
getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, dass der
Autor plötzlich fühlt: das bin ja zum Teil ich selbst.
Diese Art Ironie - die konstruktive Ironie - ist im
heutigen Deutschland ziemlich unbekannt. Es ist der
Zusammenhang der Dinge, aus dem sie nackt hervorgeht.
Man hält Ironie [fälschlich] für Spott und Bespötteln."
(S. 1645). - Jetzt sollten wir uns das etwas genauer
anschauen: Was geht im Prozess der Ironie eigentlich vor
sich? Ironie ist in jedem Falle auf die
besondere Beteiligung des oder der Adressaten angewiesen.
Dazu gehört freilich eine gewisse Intelligenz. Deshalb
verstehen z.B. kleine Kinder
Ironie überhaupt nicht. Denn der Rezipient muss selbst
die Beziehung zwischen dem vordergründig Gesagten und
einem entsprechenden Unausgesprochenen herstellen. Musils
Ironie stellt also einen hohen Anspruch an den Leser.
- Und noch etwas Wesentliches ist im Prozess der höheren
Ironie zu beobachten. Das explizit Ausgesprochene
ist
ganz offenbar nicht gemeint. Das gegenteilige
Angespielte
darf aber nicht ausgesprochen werden. Das wäre
spielverderberisch. Als Beispiel diene ein ironischer
Scherz in einem Gedicht von Matthias Claudius. Nachdem
der Esel sein trauriges Los detailliert beklagt hat,
seufzt er: "Ah, die Natur schuf mich im Grimme! Sie gab
mir nichts als eine schöne Stimme." Wer wollte hier
erklären, der Esel habe doch bekanntlich eine sehr
unschöne Stimme! Das wäre albern, ja unmöglich. Also:
Weder das Ausgesprochene noch das Angespielte ist es.
Was aber dann? Es ist das Spielfeld dazwischen!
(Vergleiche hierzu unsere Lektüre des l. Kapitels des
Romans!) Es ist die Energie, die frei wird im
Spannungsfeld zwischen den beiden Polen des
Ausgesprochenen und des Angespielten.
Sie kann sich
manchmal auch zeigen in einem Lächeln. Es ist eben
"der Zusammenhang der Dinge, aus dem" Musils
"konstruktive Ironie" hervorgeht. Hier geht
es also um etwas Konstruktives, nicht um eine Satire,
nicht einfach um ein satirisches Lächerlichmachen des
altösterreichischen Kakanien, wie oberflächliche
Interpreten meinen. Der Ironiker Musil ist es, der
"an die Überzeugung der Heiligen (und der Ärzte und
Ingenieure) glaubt, dass auch in den moralischen
Abfällen unausgenützte Heizkraft stecke" (S. 340).
Sie wird bei ihm zur Antriebskraft für ein
weiterführendes dynamisches Prinzip: die Utopie.
11. Musil nennt sich selbst einen "bewussten Utopisten"
(S. 16). Aber was ist Utopie? Im allgemeinen
Sprachgebrauch wird das Wort Utopie heute gewöhnlich
abwertend im Sinne von "Schwärmerei, Hirngespinst"
gebraucht. So steht es jedenfalls im Duden.
Andererseits ist der Begriff Utopie besonders durch
Ernst Bloch und sein Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung"
gewaltig aufgewertet worden. Und seit einiger Zeit, mit
dem Zusammenbruch des Sozialismus, ist es freilich dann
wieder abgewertet worden. - In der literarischen
Gestaltung ist Utopie die Darstellung einer hier und
jetzt noch nicht oder nicht mehr realisierten idealen
Wirklichkeit. Sie ist fiktive Vorwegnahme oder
Wiederherstellung dessen, was sein sollte. Utopie ist
also die Projektion einer als vollkommen gedachten
Wirklichkeit ins Nirgendwo, das vom Standort einer
als verderbt durchschauten Gegenwart aus in einer
helleren Zukunft oder in einer verklärten Vergangenheit
gesucht wird. Will man sich dessen, was sein sollte,
darstellend oder denkend bemächtigen, muss man es
räumlich oder zeitlich vom Hier und Heute wegverlegen
in ein Nirgendland, welchen Namen man ihm auch immer
geben mag. Denn Utopie ist etwas, wofür es noch nicht
oder nicht mehr einen Ort in der gegenwärtigen
Wirklichkeit gibt. Utopisches wird darum als Erinnerung
aus der Vergangenheit heraufbeschworen oder als
Vorwegnahme von Zukünftigem fingiert. So lassen sich
zunächst progressive und regressive
Utopie unterscheiden.
- Als Urmodell eines vollkommenen Weltzustandes gilt für
unseren Kulturkreis die alttestamentarische Darstellung
eines Paradieses, das vor dem Beginn der eigentlichen
Weltgeschichte am Anfang der Zeiten gedacht wird. Für
das Ende der Zeiten wird ein neues Paradies, ein
zukünftiges Reich Gottes erwartet, auf das zahllose
Verheißungen und Sehnsüchte gerichtet sind. Gegenüber
dem urzeitlichen und dem endzeitlichen Glückszustand
erscheint der gesamte historische Ablauf der
Menschheitsgeschichte nur als ein Zwischenstadium, welches -
gemessen am Ursprung und Ziel aller Geschichte - als
verderbt und sündhaft gilt. - In dieser dreigliedrigen
Zeitkonzeption ist der temporale Prototyp
utopischen Denkens zu sehen. Cum grano salis findet
sich
der Gedanke einer solchen triadischen Zeitstruktur des
Weltgeschehens bei den Propheten des Alten Testaments,
bei Hesiod, Platon, den Kirchenvätern,
Joachim von Fiore, bei Thomas Morus, Comte, Lessing,
Schiller, Novalis, Kleist, Hegel, Marx und ungezählten
anderen, so sehr sich auch deren
utopische Geschichtskonzeptionen inhaltlich in religiöser,
philosophischer,
politischer, gesellschaftlicher oder ästhetischer Hinsicht
unterscheiden mögen. Als Beispiel sei nur kurz
hingewiesen auf den historischen Materialismus von
Marx: Am Anfang steht die eigentumslose
kommunistische Urgesellschaft (sozusagen das Paradies).
Sie wird durch die Erbsünde des Privateigentums zerstört.
Am Ende des Geschichtsprozesses steht dann der Kommunismus
(sozusagen das Reich Gottes). - Das durch eine triadische
Zeitstruktur geprägte Utopiemodell wird häufig ergänzt
oder ersetzt durch ein räumliches Schema der Utopie,
das polar angelegt ist und sich etwa im Bilde des Gelobten
Landes oder der zahlreichen Insel-Utopien verwirklicht.
Das Land der Vollkommenheit hat allerdings, wie es die
Wortschöpfung des Thomas Morus treffend
zum Ausdruck bringt, keinen Ort in der bekanntlich
unvollkommenen Wirklichkeit. Utopia ist daher vom Festland
der hiesigen und heutigen Wirklichkeit isoliert und -
wenn überhaupt - nur unter Gefahren zu erreichen.
- Utopien gab es schon seit jeher. Thomas Morus aber ist
der Erfinder des Wortes "Utopie" in seinem berühmten Buch
über die "nova insula Utopia" (1516). Die griechische
Partikel "ou" heißt "nicht", "topos" heißt "Ort". "Utopie"
bedeutet also "Nichtort". Doch im Englischen spricht man
die griechische Partikel "eu" = "gut" ebenso aus wie
"u" = "nicht". Also ist der gute Ort zugleich der Nichtort.
Ein höchst ironisches Wortspiel. Morus selbst ist
tatsächlich der erste ironische Utopist (was freilich
hier nicht gezeigt werden kann).
Und Robert Musil? Er entwirft im "Mann ohne Eigenschaften"
mehrere Utopien. Ich skizziere die zwei entscheidenden.
a) Zunächst Musils Utopie des Essayismus. Essay
heißt Versuch, und Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften,
will ein "Leben auf Versuch und Widerruf" führen. Eine
Kapitelüberschrift fasst es - mit sanfter Ironie -
zusammen: "Auch die Erde, namentlich aber
Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus." (S. 254) Er
ist nämlich der Überzeugung, die Gegenwart sei "nichts
als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen
ist". (S. 257) Darum nimmt er sich vor, hypothetisch zu
leben. "Was sollte er da Besseres tun können, als sich
von der Welt freizuhalten, in jenem guten Sinn, den ein
Forscher Tatsachen gegenüber bewahrt, die ihn verführen
wollen, voreilig an sie zu glauben?" (S. 257). "Es hat
nicht wenige solcher Essayisten und Meister des
innerlich schwebenden Lebens gegeben [...]; ihr Reich
liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und
Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind
Heilige mit und ohne Religion, und manchmal sind sie auch
einfach Männer, die sich in einem
Abenteuer verirrt haben." (S. 261) "Wenn es
Wirklichkeitssinn gibt", überlegt Ulrich, der sich auf
dieses Abenteuer eingelassen hat, "muss es auch
Möglichkeitssinn geben." (S. 16) Und das gilt
für die Lebenskonzeption des Mannes ohne Eigenschaften
wie für Musils Konzeption der Dichtung. "Die Dichtung hat
nicht die Aufgabe, das zu schildern, was ist [Realismus],
sondern das, was sein soll, oder das, was sein könnte,
als eine Teillösung dessen, was sein soll" [Utopismus].
(Tb 810) "Was ist", "was sein könnte", "was sein soll" -
in diesen drei kurzen Gliedsätzen ist die Problematik
utopischen Denkens und Dichtens zusammengefasst. -
In dem Romankapitel, in welchem Ulrich dem Leser
vorgestellt wird, berichtet der Autor, der Mann ohne
Eigenschaften habe früher einmal in einem Schulaufsatz
den "verdächtigen Satz" geschrieben, "dass wahrscheinlich
auch Gott von seiner Welt am liebsten im
Conjunctivus potentialis spreche (hic dixerit quispiam
= hier könnte einer einwenden ...), denn Gott macht die
Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein."
(S. 19) Allerdings, der Zögling Ulrich "hatte sich
vielleicht nicht verständlich genug ausgedrückt,
denn es entstand große Aufregung darüber, und man hätte
ihn
beinahe aus der Schule entfernt [...]." (S. 19) Später
heißt es: "Gott meint diese Welt keineswegs wörtlich; sie
ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung, deren er
sich aus irgendwelchen Gründen bedienen muss, und
natürlich immer unzureichend; wir dürfen ihn nicht beim
Wort nehmen, wir selbst müssen die Lösung
herausbekommen, die er uns aufgibt." (S. 366) Daraus
erwächst Musils experimentelles Möglichkeitsdenken:
"So wie eine große Versuchsstätte, wo die besten Arten,
Mensch zu sein, durchgeprobt und neue entdeckt werden
müssten, hatte er sich früher oft das Leben gedacht,
wenn es ihm gefallen sollte. Dass das
Gesamtlaboratorium etwas planlos arbeitete und dass
die Leiter und Theoretiker des Ganzen fehlten, gehörte
auf ein anderes Blatt." (S. 156) - Hier zeigt sich, dass
Robert Musil in der modernen Literatur
einzigartig ist, einer Literatur, die in der 2. Hälfte
des 20. Jh.s zunehmend von existenzialistischem
Pessimismus und Nihilismus erfüllt ist. Bei Beckett z.B.
ist alles "Endspiel". Nirgends ist - wie
bei Musil - die Rede vom Mut des "Möglichkeitsmenschen".
Eine späte Notiz Musils lautet: "Dem
Möglichkeitsmenschen entsprechen, die noch nicht
erwachten Absichten Gottes'. - Von Anfang an ist die
Beziehung auf Gott also einfach da." (S. 1620) In
der Tat: "Dieses Buch ist religiös unter den
Voraussetzungen der Ungläubigen." (S. 1645)
b) Musils mystische Utopie eines anderen Zustands.
Seine Formel "anderer Zustand" ("a.Z") meint ein
"wunderbares Gefühl der Entgrenzung und Grenzenlosigkeit
des Äußeren wie des Inneren, das der Liebe und der Mystik
gemeinsam ist." (S. 781) Musil hat einen großen Teil
seines Lebenswerkes auf die Erforschung dieses
"a.Z." verwandt. Dabei gibt es nicht nur Positives zu
entdecken, wie sich u.a. in zwei Figuren des Romans zeigt.
Die hysterische Ekstatikerin Clarisse will den
Erlöser gebären -: Es ist die Zeit, die
begierig auf den Heilsbringer wartet. Im Rausch der
Massen erstanden dann ja auch in der Tat Führer wie Lenin,
Stalin, Hitler ... als Unheilsbringer. - Der
Mädchenmörder Moosbrugger erlebt den
"a.Z". als Trance beim Morden. - Entscheidend für das
Erlebnis des "a.Z." aber ist der Mann ohne
Eigenschaften selbst. Dieser Name hat nicht nur die
erste, anfangs genannte Bedeutung der
ironischen Distanz zu den eigenen Eigenschaften, er hat
zweitens auch eine mystische Bedeutung: Die Formel
"ohne Eigenschaften" oder auch "weiselos" stammt von
Meister Eckart, dem großen deutschen Mystiker. Sie meint
den Menschen selbst - ganz rein, als Substanz, ohne
Akzidenz, also ohne Eigenschaften. Ist dieser
"weiselose" Zustand erreicht, kann die ersehnte
unio mystica gelingen. Es gibt eine große abendländische,
christliche Tradition der Mystik. Aber heute sind vielen
die Begriffe Mystik und Meditation eher von Asien her
bekannt, z.B. durch den berühmten Zen-Buddhismus aus
Japan. Oder man denkt beim Begriff Mystik
leider an die verbreitete Esoterik mit ihrem Mummenschanz.
Musil dagegen sucht ausdrücklich eine "taghelle Mystik".
Den Weg in den "anderen Zustand" müsse man auch mit
einem Lastkraftwagen befahren können ... Im Roman heißt
es: "Erreicht man [...] die höchste Selbstlosigkeit, dann
berühren sich schließlich Außen und Innen, als wäre ein
Keil ausgesprungen, der die Welt geteilt hat." (S. 1171)
Dieser Satz, der das All-Einheitserlebnis formuliert,
steht in dem Kapitel "Atemzüge eines Sommertags", an dem
Musil noch an seinem Todestage schrieb. - Das Einssein
mit allem schließt eigentlich jeden anderen Menschen aus -
es sei denn eine "Zwillingsschwester". Es ist Agathe,
die plötzlich auftaucht und mit der Ulrich ins
"Tausendjährige Reich" reist, das "auch das Reich der
Liebe genannt" wird (S. 1171) - oder das "Paradies".
Aus dieser "Reise an den Rand des Möglichen" (S. 777),
der "Reise ins Paradies" möchte ich nun ausführlich
zitieren, auch um die Sprachkraft des Dichters Musil
hörbar zu machen. Zitat S. 1443 ff.
12. Der Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" ist Fragment
geblieben. Musil ist heute vor 60 Jahren bei der Arbeit
gestorben. Ob er ihn je hätte vollenden können, ist eine
offene Frage. - Kann man diesen Riesen-Roman wirklich
lesen? Ja, gewiss: Wenn man auf den Geschmack gekommen
ist. Sind Sie nun auf den Geschmack gekommen? Oder habe
ich Sie gar abgeschreckt? Ich möchte - nach so vielen
Zitaten - mit einem letzten enden, das Robert Musil und
seinen Mut zum Möglichkeitssinn in ganz eigener Weise
charakterisiert: "Literatur ist ein kühner, logischer
kombiniertes Leben. Ein Erzeugen oder
Herausanalysieren von Möglichkeiten." (Tb 128)
Sie "erhält das Noch-nicht-zu-Ende-Gekommene des
Menschen, den Anreiz seiner Entwicklung am Brennen."
(Tb 916)
Zitiert nach:
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1957
(zitiert nur mit Seitenangabe.)
Robert Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden.
Hamburg 1955 (zitiert mit Tb + Seitenangabe.)
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