Anomie und Fundamentalismus

26. Vortrag vor der Humboldt-Gesellschaft am 3.7.1996 von Helge Martens



"Krise der Moderne" und "Modernisierungskrise"


Inhalt:

Einleitung "Krise der Moderne" und "Modernisierungskrise"
Eine hochspekulative und leicht polemische Einleitung

I. Anomie

Analyse: Definition
Abgrenzung und Bedeutung des Anomiebegriffs

Diagnose: Anomiekonzepte

Emile Durkheim: Begründer der klassischen Anomietheorie
Robert K. Merton: Begründer soziologischen Kriminalwissenschaft
andere (Talcott Parsons)

Therapie: Wege aus der Anomie

Die Rolle der Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen
Die Chancen des Kommunitarismus
Die Gefahr des Fundamentalismus

II. Fundamentalismus

Definition, Entstehungsgeschichte und Abgrenzung
Das Harvard-Fundamentalismus-Projekt

Weltreligionen und Fundamentalismus
Christentum (Bsp. USA: Der "Affen-Prozeß" von 1925 )
Islam (Bsp. Ägypten : "Nasser Hamid Abu Zaid" und Bsp. Iran: "Der Fall Rushdie")
Judentum (Bsp. Israel : Auf dem Weg zum Gottesstaat ?)

Literatur




Einleitung:

"Krise der Moderne" und "Modernisierungskrise":
Eine hochspekulative und leicht polemische Einleitung

Unter "Moderne" versteht die Soziologie eine gesellschaftliche Entwicklungsstufe, welche von einer institutionellen Ausdifferenzierung, bei gleichzeitig hohem Spezialisierungsgrad, gekennzeichnet ist. Die vielfach beschworene "Krise der Moderne" ist nicht identisch mit der "Modernisierungskrise", doch beide hängen durch ihre Wechselwirkung unmittelbar zusammen. Dabei ist die "Modernisierungskrise" als untergeordnetes Begleitphänomen einer unkontrollierten sozioökonomischen Entwicklung zu sehen. Der Begriff "Krise der Moderne" beschreibt hingegen ein sich verschärfendes Konfliktpotential und eine Schwächung der gesellschaftlichen Kohäsions- und somit Integrationskräfte bei gleichzeitigem Erstarken sozialer Dissoziationstendenzen. Die "Krise der Moderne" ist sozio-kulturell zu begründen, die "Modernisierungskrise" eher dynamisch-wirtschaftlich. Erstere entstand, als ein übergeordnetes und Jahrhunderte altes statisches Wertesystem wegbrach und somit ein Übermaß an Verantwortung auf die individuelle Ebene abwälzte und sie damit überlastete. Unter Letzterer ist die Folge einer Dynamik zu verstehen, welche sich mit exponentiellem Wachstum gegenwärtig weltweit ausbreitet. Diese Globalisierung ist ein weltweiter ökonomisch-kommunikativer Entgrenzungsprozeß, welcher die Gesellschaften spaltet und polarisiert. Wichtige soziale Kohäsionskräfte gehen so verloren, denn es werden Gewinner und Verlierer erzeugt. Beide Entwicklungen atomisieren auf ihre Art die Gemeinschaft und erzeugen, neben ungeahnten Wirtschaftsmöglichkeiten und neuen Spielarten der Freiheit, Verunsicherung und Vereinzelung auf individueller Ebene.

Welche Bedeutung hat der 700 Jahre alte Begriff "Anomie" in diesem Zusammenhang nun für uns, kurz vor der Jahrtausendwende? Was für einen Sinn kann es haben, sich mit dem Phänomen des "religiösen Fundamentalismus" zu beschäftigen, wo doch ein massenhafter Kirchenaustritt von Hunderttausenden eine fortschreitende Säkularisierungstendenz der Gesellschaft dokumentiert ?

Beide Begriffe erschienen für die abendländische Öffentlichkeit völlig unerwartet gegen Ende der 70‘er (Fundamentalismus) und 80‘er Jahre (Anomie) wieder auf der Tagesordnung der gesellschaftspolitischen Diskussion. Auslöser war einerseits ein konkretes historisches Ereignis mit weitreichenden Folgen, nämlich die "islamische Revolution" in Persien 1979, andererseits ein anfangs diffuses, später durch Indikatoren meßbares Gefühl des Unbehagens, der Unsicherheit, der Orientierungslosigkeit auf individueller Ebene. Schon die Untersuchungen Durkheims zu diesem Thema in den 1880‘er Jahren zeigen eine über hundertjährige Aktualität, welche sich durch die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen rapide zu verschärfen scheint.

Bei beiden Phänomenen haben wir es mit hypothetischen Konstrukten zu tun, welche nur schwer faßbar sind und sich dennoch im gesellschaftlichen Raum anhand von meßbaren Indikatoren niederschlagen. Die schwere Faßbarkeit der Phänomene, ihr offensichtliches vergesellschaftetes und plötzliches Auftreten erleichtern eine sachliche Auseinandersetzung auf gesellschaftlicher Ebenen keinesfalls, ja, man sollte kein Geheimnis daraus machen : Wenn es um Konzepte zum Abfangen der negativen Begleiterscheinungen des galoppierenden Modernisierungsprozesses geht, ist der Kaiser nackt. Und das hat in erster Linie nichts mit leeren Kassen, sondern mit einer tiefer reichenden, strukturellen (und nicht, wie einige Optimisten glauben wollen : konjunkturellen) Krise zu tun. Das Abendland befindet sich in einer schweren Identitätskrise, ausgelöst durch die Dynamik und das Erreichen eines bestimmten Stadiums des Modernisierungsprozesses. Ursprüngliche Motive des Zusammenhalts, des Selbstverständnisses sowie der kulturellen Motivation scheinen aufgebraucht. Der industrielle Fortschrittsoptimismus hat uns längst verlassen, ebenso die unreflektierte Konsumwut der letzten 25 Jahre, welche wohl viele Konflikte kaschieren konnte und vielleicht auch sollte.

Schon in der Analyse der Phänomene kommen die Autoren zu unterschiedlichen Ansätzen, letztendlich sogar zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die größten Schwierigkeiten bereiten uns wohl die Therapierungsmöglichkeiten am Ende des Industriezeitalters. Offensichtlich steht ein neuer gesellschaftlicher Paradigmenwechsel bevor, welcher die postindustrielle Staatengemeinschaft mit all ihren Möglichkeiten und Risiken erneut vom Rest der Welt abkoppeln wird. Dabei müssen wir einerseits uns selbst und andererseits das Neue, Unbekannte, Unberechenbare erkennen und handhaben. Unsere Generation ist somit Versuchskaninchen und Wissenschaftler in einem. Erschwerend kommt bei der Analyse des Neuen hinzu, daß wir viele gesellschaftliche Erblasten mitbringen. Deren Erkenntnis und Entwicklung verschließt sich uns noch und ist noch nicht abgeschlossen. Auch vermittelt deren Ambivalenz vielen Zeitgenossen ein Gefühl von Unberechenbarkeit, Ausgeliefertsein und Unbehagen.

Als unmittelbare Folge des Modernisierungsdruckes ist ein folgenreicher Individualisierungsprozeß im Gange. Durch den Wegfall eines übergeordneten Wertesystems stehen den einzelnen Individuen viele neue und verschiedene Lebensgestaltungsoptionen offen. Vielleicht ließe sich die Individualisierung der Gesellschaft als "jüngste (letzte?) große Ausdifferenzierung der Moderne" bezeichnen und in eine Reihe stellen mit der Trennung von Kirche und Staat, Wissenschaft und Kirche, Kunst und Kirche usw. Jetzt also die Trennung von Individuum und Gemeinschaft?: "Trennung (bzw. Wegfall) von kollektiver Norm und individuellen Erwartungshorizonten?", aber damit wäre man schon mitten in der Interpretationsarbeit.

Die Ambivalenz , also Risiken und Nebenwirkungen einerseits und Chancen und Hoffnungen andererseits, werden nicht jedem Involvierten deutlich sein. Auf der individuellen Ebene wird sich der einzelne entweder als Gewinner oder als Verlierer bezeichnen. Daran wird der Polarisationseffekt der Modernisierungsdynamik deutlich, gesellschaftliche Einheiten werden zusätzlich zertrümmert: Die einen surfen völlig entgrenzt und worldwide durchs Internet und fühlen sich online als neue Kosmopoliten des Universums, die anderen werden zusammen mit ihrem archaisch-industriellen Arbeitsplatz gleich auch persönlich mit wegrationalisiert und sie erscheinen fortan nur noch in den Negativstatistiken der "dienstleistungsbetonten" Zweidrittelgesellschaft. Die Globalisierungsgewinner stehen somit den Modernisierungsverlierern in sozialer Hinsicht diametral entgegen.

Das Bedürfnis nach Geborgenheit in einem heimatlich-akzeptierten Wertesystem scheint jedem Menschen immanent zu sein. Geborgenheit ist dabei ein offener Begriff nach beiden Seiten hin: Einerseits in Hinsicht auf Freiheiten, andererseits in Hinsicht auf ein verläßliches kulturell-normatives Regelwerk. Geraten die Komponenten Individuum und Gesellschaft (denn aus beiderlei Ansprüchen konstituiert sich ein Weltbild) bei der Normenvermittlung aus dem Gleichgewicht, so überfordert die eine Ebene die andere, treten an die normativen Leerstellen zur Überwindung des Sinnvakuums nicht selten vermeintliche Lösungsmodelle, welche vormodern-regressiv sein können. Ein Beispiel, vielleicht neben dem Abgleiten in ein aggressiv-kriminelles Milieu das beunruhigendste, ist der religiöse Fundamentalismus als verzweifelte Antwort auf Modernisierungsdruck und dadurch ausgelöste anomische Tendenzen.

Hier soll erörtert werden, wie beide Begriffe sich gegenseitig bedingen. Dabei soll gezeigt werden, welche verschiedenen Ansätze und Fragestellungen zur Sichtbarmachung der Phänomene es gibt und daß es sinnvolle Wege aus der Anomie gibt und daß fundamentalistische Antworten das Problem weder auf individueller noch auf gesellschaftlicher Ebene lösen können.

I. Anomie
Analyse: Definition
Abgrenzung und Bedeutung des Anomiebegriffs

Der Begriff der Anomie ist ein hypothetisches Konstrukt, also eine unsichtbare Ursache von Phänomenen, welche aber in Form von Indikatoren (z.B. Selbstmordrate, Scheidungsrate, Kirchenaustritte...) durchaus meßbar ist. Der Zusammenhang zwischen Konstrukt und Indikator ist allerdings nicht deterministisch zu verstehen und bedarf der Interpretation. Etymologisch setzt sich "Anomie" zusammen aus griech. "nomoi", "die Gesetze", und einem Partikel der Verneinung. "Anomie" bedeutet somit zunächst einen "Zustand der Gesetz-oder Regellosigkeit". Er begegnet uns zuerst, neben einigen antiken Reminiszenzen bei Platon, in der mittelalterlichen theologisch-philosophischen Tradition, genauer bei Thomas von Aquin (1225-1274). Vom 13. bis zum 19.Jh spielt der Begriff keine bedeutende Rolle in der gesellschaftlichen Diskussion, allenfalls wird er isoliert in der englischen Theologie des 16./17. Jh. ("anomy") eingesetzt, wo er zur Beschreibung des Brechens religiöser Gesetzte angewandt wird. Er gerät dann in Vergessenheit und wird erst um 1890 ff von dem französischen Soziologen E. Durkheim wieder aufgenommen und in einen soziologischen Zusammenhang gestellt, bevor der Begriff im 20.Jh eine bedeutende Rolle (gerade in Nordamerika) in der öffentlichen Diskussion spielen wird. Durkheim schuf mit seinen Untersuchungen der sozialpathologischen Auswirkungen der frühindustriellen Arbeitsteilung die klassische Anomietheorie der Moderne, Robert K. Merton verfeinerte sie, indem er sich mit den sozialen Fehlanpassungsmechanismen der Individuen beschäftigte. Die relative Konstanz des Begriffes, bei leichter semantischer Verschiebung, beweist seine Nähe zum gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß: Gesellschaft ist niemals statisch, nur die Geschwindigkeit der Dynamik verändert sich. Zeiten der vermeintlichen Stagnation, welche meist nur ein Verschleppen von natürlichen Prozessen unter der Oberfläche sind, wechseln ab mit Phasen sich selbst übersteigernder Dynamik. Gerade in solchen Situationen treten anomische Tendenzen auf: Wenn Altes abgelöst wird durch etwas Neues, Unberechenbares. In der Moderne hat der Begriff zwei Ebenen : Die gesellschaftliche und die individuelle. Die verschiedenen Autoren legen, je nach Fragestellung, entweder mehr Wert auf die eine oder andere Komponente. Alle aber gehen von einer Beziehung beider Ebenen zueinander aus.

Krise der Moderne ? Individuum und Gemeinschaft

Es wäre falsch, "Anomie" mit "Anarchie" gleichzusetzen: Das griechische "anarchia" meint Herrschaftslosigkeit, mit "Anomie" sind aber die nomoi, die "Gesetze" gemeint, und zwar die gesellschaftlichen. Vielleicht ist es besser von "Regeln" oder "Normen" zu sprechen. Und diese müssen in diesem Zusammenhang als verbindliche Normen, als übergeordnetes Wertesystem verstanden werden, welches von der Kultur/ Gesellschaft/ Gemeinschaft vorgegeben wird und an welchem sich, je nach Modernisierungsgrad der Gesellschaft, das Individuum orientieren muß oder kann. Dabei reichen auf der Skala der Wahlmöglichkeiten für den einzelnen in bestimmten Situationen die Optionen von "mein Weg ist vollkommen vorgezeichnet" bis hin zu "ich habe unendlich viele Wahlmöglichkeiten". Beispiele für Option 1 wären vor allem in nicht ausdifferenzierten, vormodernen Gesellschaften zu finden : Die Eltern bestimmen die Ehepartner für ihre Kinder, der Sohn geht selbstverständlicherweise den selben beruflichen Weg wie die Vorfahren, Moral und Gesetz sind deckungsgleich, etc. Es ist ein Übermaß an Normen festzustellen, das Individuum kann nicht oder nur sehr begrenzt zwischen verschiedenen Lebensoptionen wählen. Unter Umständen kann man auch von einer "Hypernomie" sprechen, wenn das Individuum und seine Wahlmöglichkeiten von den herrschenden Normen geradezu erdrückt wird. Beispiele für Option 2 finden wir fast ausschließlich in den ausdifferenzierten modernen und postindustriellen Gesellschaften wie der US-amerikanischen oder der deutschen: Studenten stehen vor unendlich vielen Wahlmöglichkeiten, jedem Individuum stehen bei entsprechender Qualifikation alle beruflichen Wege offen, traditionelle Werte sind relativiert, sogenannte "Rollen" werden jetzt mehr oder weniger freiwillig übernommen, der Verlust der Eindeutigkeit auf moralischem Gebiet verhindert eine klare Trennung zwischen "gut" und "böse", zwischen "richtig" und "falsch", was die Sinn- und Identitätsfindung erschwert. Alle Werte und Qualifikationen müssen eigenständig erworben werden, nichts wird mehr durch die gesellschaftlichen Konventionen vorgegeben, u.U. sogar ererbt. Die Identität des Individuums muß in der Moderne eigenverantwortlich aufgebaut, aktiv konstruiert werden. Im Idealfall wird man erst zu dem, der man werden will. In archaischen und traditionellen Gesellschaften hingegen ist man schon quasi vor der Geburt, also durch Herkunft, derjenige, der man später sein wird: Das eigene Zutun ist gering, alles wird ererbt und verliehen. Eine grobe Verkürzung dazu mag unpräzise, aber hilfreich sein: In vormodernen Gesellschaften ist der Vater wissender als der Sohn, nach oder schon während des modernen Ausdifferenzierungsprozesses muß der Sohn wissender als der Vater werden, will er im Leben bestehen. Außerdem muß er jetzt auch gegen die Töchter konkurrieren, denn auch diesen stehen jetzt vielfältige Optionen zur Lebensgestaltung offen.

Die Unterscheidung in moderne und vormoderne Gesellschaftsstufen ist elementar für das Verständnis des Anomieproblems, wobei vorausgesetzt wird, daß der Begriff "modern" ein wertneutraler sein soll: "Modern" bedeutet "fortgeschritten". Und der Fortschritt ist ein sehr ambivalentes Phänomen, denn für jeden Schritt nach vorn tauschen wir etwas Altes, u.U. Bewährtes ein, welches aber aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr haltbar ist. Was aber macht nun die Modernität einer Gesellschaft aus? Unter dem Modernisierungsprozess verstehen wir die schrittweise Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme aus einem ursprünglich Großem, Ganzem. Dieser Prozeß setzte für das christliche Abendland im Hochmittelalter ein. Er wird deutlich am Investiturstreit zwischen weltlicher und kirchlicher Macht, als dessen erster Höhepunkt der schmachvolle Gang Heinrichs IV. nach Canossa 1077 und die Unterwerfung unter Papst Gregor VII. gelten kann. Trotzdem kommt es später zur relativen Trennung von Kirche und Staat. Den beiden Teilbereichen werden unterschiedliche Funktionen zugewiesen, sie funktionieren relativ autonom, auch wenn es weiterhin, je nach Land und Geschichte, Berührungspunkte gibt. So setzt sich die Ausdifferenzierung, gerade durch die Impulse der Renaissance, über die Jahrhunderte fort. Nacheinander trennen sich Wissenschaft und Theologie/Kirche, Kunst und Kirche/Staat, öffentlicher und privater Raum.

Worin liegen nun die krisenhaften Momente dieser Entwicklung ? Sind nicht die Trennungen der Teilsysteme vorteilhaft für alle Beteiligten ? Hier setzt nun der ambivalente Charakter des Fortschritts ein : Der Zerfall in unterschiedliche Subsysteme, welche u.U. auch miteinander konkurrieren, bringt dem Individuum einen enormen Zuwachs an persönlicher Freiheit mit sich. Diese Freiheit artikuliert sich besonders in einer Bereitstellung von vorher ungeahnten Optionen zur individuellen Lebensgestaltung. Das Individuum steht nicht nur vor einer Fülle von verschiedenen Wahlmöglichkeiten, sondern sieht sich auch einem Entscheidungsdruck ausgesetzt. Dem Individuum wird jetzt auf seinem Lebensweg, der früher durch Herkunft und Konventionen vorgezeichnet war, ein hohes Maß an Selbstorganisation(skraft) abverlangt. Dieser mitunter verwirrende Vorgang wird in der Soziologie Individualisierungsprozess genannt. Er bringt in vielen Fällen Identitätsprobleme , also Verunsicherungen über das eigene selbst auf der individuellen Ebene mit sich. "Identität" bedeutet, daß etwas "mit sich selbst übereinstimmt", also ganz bei sich ist und sich über sich selbst, seine Möglichkeiten und Grenzen, im Klaren ist. Der Begriff steht in seiner positiven und "erfolgreichen" Ausprägung der modernen "Entfremdung" gegenüber, bei dem das Subjekt eben nicht bei sich selbst ist. Das "Identitätsproblem" ist in modernen Gesellschaften ein individuelles Problem, weil die Identität dem Individuum nicht mehr durch seine Herkunft vorgegeben wird. Identitätsfindung ist somit Selbstfindung. Die Identitätsfrage kann für das Individuum auf unterschiedliche Weise beantwortet werden:

Autonomie: Das Individuum leitet seine Identität aus eigenem Selbstverständnis ab. Die Etymologie ist aufschlußreich : griech. "autos": "selbst" und griech.: "nomoi": "die Gesetze" beinhaltet, die Maximen des Denkens und Handels aus sich selber abzuleiten. Dieses ist der höchste und geglückte Ich-Begriff des deutschen Idealismus: "Autonomie wird durch das Studium, die Beschäftigung mit den Wissenschaften, erreicht. Das autonome Subjekt ist das "gebildete Subjekt" (Humboldt, Kant). Zur gleichen Zeit wird auch die Kunstautonomie postuliert (Schiller): Auch durch die Beschäftigung mit einem autonomen Kunstwerk, welches nur um seiner selbst willen schön ist und somit den Zweck seines Daseins in sich selbst trägt, kommt der Mensch ganz zu sich selbst. Auch das ermöglicht ihm , laut deutscher Klassiker, autonom zu werden. Das Subjekt, welches das autonome Stadium erreicht hat, kann somit als das Produkt eines ideal verlaufenen Selbstfindungsprozesses bezeichnet werden.

Atomisierung: griech.: "atomos" bedeutet "unteilbar". Wir haben im atomisierten Zustand also eine Auflösung jeglicher Verbindungen zwischen den Teilchen erreicht und befinden uns auf dem untersten Stadium einer Einheit, dem der weiteren Unteilbarkeit. Im soziologischen Sinne wäre das die Auflösung aller sozialen Kohärenzkräfte. Gemeint ist der Vereinzelungsgrad der Gesellschaft. Berlin mit seinem hohen Anteil an Ein-Zimmer-Wohnungen wäre ein klassisches Beispiel für ein Subsystem mit hohem Atomisierungsgrad. Der Begriff hat immer eine negative Konnotation. Er beinhaltet Einsamkeit, Verwahrlosung, Ignoranz und Egalitarismus gegenüber dem Nächsten. Man könnte von gesellschaftlichem Autismus sprechen.

Individualisierung: Auch das lat. "individuus" bedeutet "ungeteilt". Auch hier ist die kleinste unteilbare Einheit gemeint. Der Begriff wird aber im Deutschen neutraler verwandt als "Atomisierung", wenn auch bei "individuell" die Merkmale des einzelnen, besonderen gemeint sind. In der Soziologie ist mit der Individualisierungstendenz einer Gesellschaft die Möglichkeit der Individuen gemeint, sich zwischen unterschiedlichen Lebensoptionen entscheiden zu können bzw. müssen. Auch diese Verwendung des Begriffs ist wertneutral.

Ein aktuelles Beispiel für einen plötzlichen Individualisierungsdruck waren die jüngsten Revolutionen in Ost- und Mitteleuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus: Millionen sozialistisch sozialisierter Menschen mußten quasi über nacht lernen, mit der neuen Freiheit und mit einer neuen Identität umzugehen. Plötzlich wurde von ihnen erwartet, daß sie eigenverantwortlich ihr Leben in die Hand nehmen würden. Den ehemals neofeudal gegängelten Massen wurde jetzt abverlangt, daß sie von heute auf morgen zu mündigen, selbstverwirklichten und autonomen Individuen mit westlicher Konsumkompetenz werden würden! "Freiheit" erstreckte sich also plötzlich nicht mehr nur auf das Presserecht und die Freizügigkeit, sondern wurde ein den Alltag jedes einzelnen konstituierender Terminus: Was kaufe ich mit der neuen Währung ? Wie sieht meine berufliche Zukunft aus ? Welche Versicherung brauche ich ? Wohin soll die nächste Urlaubsreise gehen ? Alles ungewohnte Fragen, denn viele traten zu DDR-Zeiten gar nicht auf, sie wurden "kollektiv" gestellt und zentral "entschieden". Allerdings muß deutlich gesagt werden, daß gerade vor der "Wende" im Osten die anomischen Tendenzen im Vergleich zu den westlichen Gesellschaften "von oben" minimiert wurden: Dem Individuum wurde nur ein sehr geringer persönlicher Entscheidungsspielraum zugetraut. Der neofeudale Ansatz der sozialistischen Diktaturen mit ihrem vorgezeichneten sozialistischen Menschenbild und Erziehungsideal (der Versuch, den "homo sowjeticus" zu erzeugen) ist unverkennbar. Gerade die sich relativ "frei" entwickelnden westlichen Gesellschaften hingegen hatten sich schon Jahrzehnte früher mit der Realität der Individualisierungstendenzen auseinandersetzen müssen, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Dabei wird bei der Betrachtung sowohl bei der westlichen als auch bei der östlichen Problematik eines deutlich: Der Mensch hat zwar ein apriorisches Freiheitsverlangen, der Umgang mit der Freiheit muß aber gelernt werden. Damit ist besonders der Aspekt der Entscheidungsfindung gemeint. Für sich selbst die richtige Entscheidung zu treffen kann nur bedeuten, die angebotenen Optionen auch eigenständig beurteilen zu können. Diese Urteilsfähigkeit wiederum kann nur auf Erfahrung beruhen. Es bleibt also zu fragen, wo denn in unserer Umgebung angemessene Erfahrungsräume und –möglichkeiten zur Verfügung stehen, die die Grundvoraussetzung für die Konstituierung des sich seines eigenen Verstandes bedienenden autonomen Subjekts bilden... Daß hier ein ideales Menschenbild gesetzt wird, nämlich das allseits aktive, interessierte und kompetente, sollte betont werde,- daß wir hier mit einem Zirkelschluß arbeiten, also das selbständige Subjekt apriorisch postulieren, ebenfalls...Gerade hier müßten Konzepte zur Erforschung anomischer Tendenzen ansetzen. Wenn sämtliche übergeordnete verbindliche Wertesysteme wegbrechen, das Individuum also ein Übermaß an persönlicher Freiheit zur Gestaltung des eigenen Lebensweges erfährt, muß davon ausgegangen werden, daß jede Handlung einen Präzedenzfall darstellt, der einzelne also nur durch das "Versuchs- und Irrtumsprinzip" weiterkommt. Der energetische und kreative Aufwand ist immens, manch einer verliert sich auf der Selbstfindungssuche und im Prozess der Sinnkonstitution. Dort, wo allgemeinverbindliche Maßstäbe zur Orientierung fehlen, muß jeder einzelne unter großem Aufwand diese selbst konstruieren. Die einen werden diesen Prozeß spannend finden und ihre Möglichkeiten nutzen, andere fühlen sich überfordert und ziehen daraus unterschiedliche Konsequenzen. Wie hoch darf der Preis der Freiheit sein ?

Diagnose : Anomiekonzepte

Emile Durkheim: Der Begründer der klassischen Anomietheorie

Der französische Soziologe (1858-1917) Emile Durkheim war Zeitgenosse W. Paretos und Max Webers. Eine empirische Soziologie bestand zu der damaligen Zeit noch nicht und wurde von den o.g. Autoren erst begründet. Obwohl sie zu gleicher Zeit mit ähnlichen Forschungen beschäftigt waren, nahmen sie wissenschaftlich keinerlei Notiz voneinander.

Durkheim sah sich selbst als Soziologe eher als Naturwissenschaftler denn als Geisteswissenschaftler und dabei in der Tradition des Positivismus (vgl. A. Comte). Seit 1896 hatte Durkheim eine Professur in Bordeaux inne, ab 1902 in Paris. Seine Hauptwerke, "De la division du travail social,..." (dtsch.: "Die Arbeitsteilung") und "Le suicide" erschienen 1893 und 1897. Darin beschäftigt er sich mit gesellschaftlichen Zuständen in verschiedenen Ländern Europas zur Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Begriff der Anomie spielt darin eine wesentliche Rolle. In "Die Arbeitsteilung" stellt er fest, daß die moderne Arbeitsteilung zwangsläufig zu einer Abnahme der zwischenmenschlichen Bindungen führen müsse und daß dies Vereinzelung, unter Umständen sogar eine erhöhte Selbstmordrate zur Folge habe. Die Gesellschaft entwickele sich "von der mechanischen (=statisch-traditionellen Welt) zur organischen (arbeitsteiligen Welt) Solidarität". Um diese zu bewältigen, müssen "individuelle Ressourcen der Handlungskompetenz" vorausgesetzt werden können.

In "Le suicide" untersucht er den Zusammenhang von sozialer Integration des Individuums in die familiäre, religiöse und nationale Gemeinschaft einerseits und der Selbstmordrate andererseits. Dabei interessiert ihn beispielsweise ein internationaler Vergleich nationaler Selbstmordstatistiken. Er geht der Frage nach, warum ausgerechnet das Schweden der Jahrhundertwende im Verhältnis zu Italien eine ungleich höhere Selbstmordrate aufzuweisen hat. Auch hier kommt er zu dem Ergebnis, daß das "Glück des Individuums" bzw. die Ausgeglichenheit der Persönlichkeit von der Intensität der Bindungen zwischen Individuum und Gesellschaft abhinge: "Der Selbstmord variiert im entgegengesetzten Sinn des Grades der Integration (des Individuums) in die religiöse Gemeinschaft, in die häusliche Gemeinschaft oder Familie und in die politische Gemeinschaft oder Nation." Man kann also seine Aussagen in dem Satz : "Je moderner eine Gesellschaft ist, desto höher ist auch die Selbstmordrate." zusammenfassen. Ausgegangen war er von der landläufigen Hypothese, daß das trübe Wetter Schwedens, der lange Winter des Nordens usw. der Sonne Italiens gegenüberstehe und somit verantwortlich sei für die hohe Selbstmordrate in dem skandinavischen Land. In erster Linie machte Durkheim soziale Faktoren wie die enge religiöse und familiäre Bindung der röm.-katholischen Italiener (vs. der hohe Säkularisierungsgrad im lutherischen Schweden) für die niedrigere Selbstmordrate verantwortlich: "Soziales muß mit Sozialem erklärt werden,". wenn er auch zugestand, daß selbst soziale Faktoren durch das Wetter indirekt beeinflußt werden könnten (z.B. trübes Wetter als allerletzter Auslöser für die Tat). Es gelang ihm allerdings nicht, mit seinen Hypothesen die höchste Selbstmordrate der damaligen Zeit, die von Budapest, zu erklären oder die Hintergründe einer relativ niedrigen Suizidrate Finnlands aufdecken zu können, wo es paradoxerweise eine sehr hohe Vereinzelungsrate gab. Methodisch wurde Durkheim sofort angegriffen, weil seine Untersuchungen auf unreflektierten amtlichen Statistiken beruhten und er kein eigenes empirisches Datenmaterial erhoben hatte.

Indikatoren für Anomie sind für Durkheim :

· hohe Selbstmordrate
· hohe Scheidungsrate
· hohe Jugendkriminalitätsrate
· hohe Vereinzelungsrate
· hohe Bindungslosigkeit
· hohe Rate psychischer Erkrankungen
· Gewaltzunahme

Durkheims Begriff der "Gruppenmoral" konstituiert sich aus einem "überindividuellen Zwang des Kollektivbewußtseins auf das Individuum". Durkheim betont beim Anomiebegriff die gesellschaftlichen Bedingungen. Anomie bedeutet für ihn der Verlust normativer Bindungen, er geht von einer kulturellen Desintegration aus. Neben Analyse und Diagnose bietet er aber auch eine Therapie an : Um das Individuum wieder in ein übergeordnetes System einzuordnen, fordert er staatliche Maßnahmen zur Überwindung der Vereinzelung, z.B. die Einführung von zusätzlichen Feiertagen.

Robert K. Merton

Der 1910 geborene amerikanische Soziologe und Parsons-Schüler sieht die Anomie als eine "Diskrepanz von Lebenszielen und Lebensmöglichkeiten, bzw. diese auf einem legalen Wege zu erreichen." Seine Untersuchungen aus den 20‘er Jahren waren USA-spezifische soziologische Kriminalitätsforschungen. Er beobachtete, daß es u.U. beim individuellen Nicht-Erreichen von Ansprüchen zur Ausbildung von illegitimen Substituten auf einer subkulturellen Ebene komme. Als Beispiel werden die Jugendbanden genannt, welche ihre eigenen Wertsysteme entwickeln würden, da ihre Mitglieder den Ansprüchen der Gesellschaft auf legitime Weise nicht gerecht werden könnten (z.B. materielle Statussymbole wie ein Auto oder immaterielle wie ein Schulabschluß oder ganz einfach Erfolg). Diese sogenannten "Streetcorner societies" könnten mit ihren Symbolen, Chiffren und Codizes wieder auf ein erreichbares System zurückgreifen

Andere: Talcott Parsons

Neben Max Weber, R. Dahrendorf, Seemann, Dreitzel u.a. ist noch besonders das Verdienst Talcott Parsons (1902-1979) um die Anomietheorie hervorzuheben, wenn dies auch nicht sein hauptarbeitsbegriff gewesen ist. Der amerikanische Soziologe, noch in den 20‘er Jahren Schüler bei M. Weber in Heidelberg, wird heute kaum noch rezipiert, was wohl in erster Linie mit seiner wissenschaftlichen Methodik zu erklären ist. Er gilt als einer der Begründer der strukturell-funktionalen Theorie, welche ihre Wurzeln in Comtes "Systemtheorie" hat. Parsons machte den Versuch, eine Universalwissenschaft mit naturwissenschaftlich exakten methodischen Grundlagen (z.B. "soziale Physik") zu entwerfen. Die Gesellschaft sollte auf diese Weise durchschaubar und regulierbar gemacht werden. So versuchte er auch, Webers, Paretos und Durkheims Theorien naturwissenschaftlich-exakt zu systematisieren: In seinem Modell eines "sozialen Systems" entwirf er eine "Theorie sozialen Handels": Im Idealfall, dem des Gleichgewichts, befinden sich die Handelnden sowohl im Einklang mit ihren individuellen Bedürfnissen als auch mit den Erwartungen ihrer Interaktionspartner. Diese Bedürfnisse und Erwartungen werden durch Internalisierung gemeinsamer Wertmuster und Verhaltensweisen gesteuert und durch Institutionen soziokulturell verfestigt. Der Ansatz seines Hauptwerkes "Social system" (1950) gilt allerdings heute als überholt. Heute wissen wir, daß sozialwissenschaftliche Prognosen nicht deterministisch, sondern allenfalls probalilistischer Natur sein können (vgl. hierzu Mertons Theorie der "selbsterfüllenden Prophezeihung". Merton ist ein Schüler Parsons). Sein Beitrag auf dem Gebiet der Anomieforschung hat aber immer noch, bzw. wieder Aktualität. Besonders interessant sind seine Handlungstypen, die er für das anomische Subjekt konstatiert :

· Regression
· Konfrontation
· Resignation

Dabei sind diese Handlungstypen sowohl Reaktionen auf als auch Ausdruck von anomischen Zuständen.

Die drei Oberbegriffe zeigen schon ein durchaus unterschiedliches Verhaltensrepertoire. Hier wird noch einmal deutlich, daß es keinen deterministischen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und individueller Anomie geben kann, denn die Reaktionen sind geradezu widersprüchlich : Den Reaktionstyp Regression sieht Parsons in Zusammenhang mit Opportunismus, Verdrängung und unbewußter Problemabwehr ("Aufschieben und Vertagen von Problemen"). Auch der Infantilisierungshabitus der "Dauerkinder", die sich einem verantwortungsvollen Erwachsenenleben verweigern und den Lebensabschnitt der Spätpubertät ins Unendliche ausdehnen, fallen unter dieses Stichwort. Bei der Konfrontation ist eine offensive Abwehrreaktion festzustellen: Die Rebellion, also die Auflehnung gegen und die Zerstörung von noch bestehenden Normresten ist das Ziel dieses Typs. Die bewußte Verneinung verbliebener Normen kann kriminelle Züge erreichen. Resignation, welche mit Ratlosigkeit, Passivität, Entschlußunfähigkeit und sich verschärfender Orientierungslosigkeit einhergeht, steht den beiden anderen Handlungstypen gegenüber, da bei Regression und Konfrontation zwar negative, aber immerhin neue Werte aufgebaut werden, welche dem anomischen Subjekt einen gewissen Halt geben. Bei der Resignation wird die Erfahrung der Machtlosigkeit, der eigenen Bedeutungslosigkeit zentral. Dem Individuum wird sämtliche Bestätigung (gesellschaftliche Rückkopplung) versagt. Aber gerade diese Anerkennung durch andere ist konstitutive Voraussetzung zur Identitätsbildung (vgl. Hegel). Das Ohnmachtsgefühl wird Dauerzustand.

Therapie : Wege aus der Anomie

Die Rolle der Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen

Wir müssen zwischen Erziehung und Sozialisation unterscheiden: Erziehung ist ein "typisch deutscher" Begriff und ist kaum in andere Sprachen übersetzbar, weil er in vielen Kulturen mit "Bildung" konnotiert ist (vgl. franz. u. engl. "education", span.: "educación"). Natürlich wird in allen Kulturen "erzogen", aber es findet meist keine semantische Unterscheidung zwischen "erzieherisch" und "bildend tätig sein" statt. Diese elementare Unübersetzbarkeit verweist auf die besondere deutsche Tradition im Bildungsbereich (vgl. z.B. Humboldts Bildungsbegriff) sowie in den Erziehungswissenschaften (viele westliche Kulturen kommen auch ohne diese aus) bzw. in der Pädagogik. Hier ist die Quantität deutscher Autoren seit der Reformation hervorzuheben, welches ein besonderes deutsches Interesse in diesem Bereich dokumentiert. In diesem Zusammenhang mag es sehr erfrischend erscheinen, sich gerade der folgenden Definition von Erziehung zu nähern.

"Erziehen heißt, die psycho-biologische Beschaffenheit des Individuums in Abhängigkeit von der Gesamtheit der kollektiven Realitäten, denen die Gemeinschaft Wert beimißt, zu transformieren".

Die Definition stammt von dem französischsprachigen Schweizer Jean Piaget. Auffällig ist, daß sie äußerst vage formuliert ist. Es wird deutlich, daß Piaget nicht in der deutschen, sondern der französischen Tradition steht. Er unterschlägt, aus deutscher Sicht, zwei für die Erziehung wesentliche Begriffe : Den Erzieher und die Intention, also das zielgerichtete (teleologische) Heranführen des "Zöglings" an bestimmte Erziehungsziele. Außerdem geht Piaget in seiner Erkenntnistheorie von einem aktivistischen Subjekt aus. Vielleicht ist auch das unvereinbar mit unserem Erziehungsbegriff... So liegt sein Begriff näher an unserer Definition der Sozialisation. Auch die Sozialisation ist, wie die Erziehung, ein Interaktionsverhältnis Nur ist der Begriff breiter angelegt. Bei der Sozialisation fällt der Erzieher, und mit ihm die Intention, weg. Unter Sozialisation verstehen wir somit alle Prozesse, die das Individuum zu einem sozialen Wesen machen, d.h. zu Interaktion mit anderen Menschen befähigt. Darunter fällt auch, Fähigkeiten zu erwerben, sich an soziale Ansprüche anzupassen bzw. sich gerade eben nicht anzupassen. Dieses setzt gesellschaftliche Normen voraus, an denen sich das Individuum orientieren kann. Da die Intention des Erziehers hier wegfällt, lernt das Kind ungerichtet. Dabei spielen Menschen und Gruppen eine Rolle, die keine erzieherische Intention haben, z.B. ältere Geschwister, Freunde, Verwandte. Dabei lernt das Kind durch die Nacheiferung der gebotenen Vorbilder, bewußt und unbewußt.

Wir kennen in der Moderne vier verschiedene wichtige Sozialisationsinstanzen:

- Familie
- Schule
- Gleichaltrigengruppen
- Medien

Dabei ist es selbstredend, daß es hier zu Überschneidungen zwischen den Bereichen der Erziehung und der Sozialisation kommt: Eltern können beide Bereiche repräsentieren. Unter Umständen wechseln die Instanzen von einer Funktion zur anderen, z.B. wenn ältere Geschwister die jüngeren miterziehen müssen, also plötzlich intentional handeln. Im Verlauf der Entwicklung werden einige Instanzen auch wichtiger (Gleichaltrigengruppen), andere verlieren an Bedeutung (Eltern).

Bei der Bewältigung der Anomiekonflikte muß auch hier von zwei unterschiedlichen Ebenen ausgegangen werden. Aber jeweils beide sind nicht nur "Opfer" der anomischen Tendenzen, sondern auch "Täter". Wobei man in diesem Zusammenhang Max Weber (sinngemäß) hören sollte : "Nicht Gruppen sind Handelnde, sondern immer nur Individuen". Allerdings sollte angemerkt werden, daß viele Einzelfälle eine Tendenz ausmachen und einen Konsens, die Grundvoraussetzung für das konfliktminimierte Leben in Gemeinschaft, konstituieren können (vgl. hierzu A. Comtes Konsensbegriff). Die individuelle Ebene darf sich, schon gar nicht in einer Demokratie, allein in der "Opferrolle" sehen. Die Beziehung ist reziprok. Wenn von "unten" keine Werte "nach oben" gelangen, wird sich dieses Wertvakuum irgendwann, spätestens aber nach dem nächsten Generationenwechsel, mit allen Konsequenzen zurückmelden. Schuldzuweisungen in dieser Hinsicht sind aber sinnlos, weder "die Gesellschaft" ist Schuld noch einzelne Individuen. Es ist aber festzuhalten, daß einige Gründe klar benannt werden können: Bereits 35 % der heutigen Kinder sind Einzelkinder, weitere 40 %, Tendenz steigend, sind sog. "Scheidungswaisen". Hier fällt also die Sozialisationsinstanz "Familie" ganz oder teilweise weg. Die intakte Familie gilt aber gemeinhin als "Keimzelle der Gesellschaft", sie steht ausdrücklich unter dem Schutz des Staates (vgl., GG). Grundschullehrer klagen heute darüber, daß sie die Erstklässler erst einmal an natürliche soziale Grundtatsachen gewöhnen müßten, daß sie nämlich Teil einer Gruppe sind. Dieses ist ein typisches Problem des späten 20.Jhs, vorher geradezu unvorstellbar.

Innerfamiliär sind drei übergeordnete Erziehungsstile auszumachen:

- Der autokratische Stil
- Der partnerschaftliche Stil
- Der anti-autoritäre Stil

Wollte man jeweils eine historische Zuordnung vornehmen, würde man den autokratischen Stil mit seiner väterlichen Autorität, im Sinne von nicht verhandelbaren Dogmen bzw. Befehlen gegenüber den Kindern, der Vergangenheit zuordnen (vor 1918), der anti-autoritäre Stil hätte seinen historischen Ort nach 1968 und heute wird im allgemeinen eine Erziehung auf Verhandlungs- und Erklärungsbasis anvisiert. Dieser Erziehungsstil basiert auf einer Vertragsmoral beider Parteien und setzt eine Einsichtsfähigkeit sowie eine höhere moralische "Kompetenz" voraus (vgl. dazu Piagets u. Kohlbergs Untersuchungen zur moralischen Entwicklung des Kindes/Menschen). Trotz dessen Dominanz ist heute natürlich eine gewisse Parallelität aufgrund des "Überlebens" der zwei anderen Möglichkeiten festzustellen. Der anti-autoritäre Stil ist allerdings kein eigentlicher Erziehungsstil, sondern vielmehr ein Sozialisationszustand, denn er verneint ja gerade jegliche Teleologie, nach der Devise: "Alles Heil geht vom Kinde aus", was eine Modifizierung der Rousseauschen Figur vom " an sich guten Menschen" und des "verderblichen Gesellschaftseinflusses" ist. Nun läßt sich nicht per se sagen, daß der Stil "X" notwendigerweise zu anomischen Tendenzen führe. In den Sozialwissenschaften können wir keine deterministischen Prognosen machen, sie haben höchstens probabilistischen Charakter. Denn Durkheim beschäftigt sich ja schon zu einer Zeit mit anomischen Tendenzen, als der autokratische Erziehungsstil noch vorherrschte. In der Theorie müßte nach unserem Verständnis der partnerschaftliche Erziehungsstil zu einem autonomen Individuum führen. Aber in der Realität sieht das häufig anders aus: Verunsicherung entsteht nämlich dann, wenn die Kinder nicht die vereinbarten Konsequenzen bei Regelverletzungen auch tatsächlich zu tragen haben. Dem vergleichbar steht auf gesellschaftlicher Ebene Dahrendorfs Beobachtung gegenüber, "daß in unserer Gesellschaft Normbrüche nicht mehr geahndet werden" (die Palette reicht von Brüchen traditioneller Normen und Moralverstößen, z.B. Fastenverstößen, bis hin zu kriminellem Verhalten wie Diebstähle) Auch eine Mischung aus verschiedenen Erziehungsstilen kann beim Kind zu Verunsicherung führen. Wenn sich die Eltern über den Erziehungsstil nicht einig sind, wird ein und die selbe Kompetenzebene widersprüchlich. Das Kind weiß nicht, an wessen Norm es sich orientieren soll.

Die Schule als "Erziehungsinstanz" spielt heutzutage sicherlich kaum noch eine Rolle, hingegen ist ihre Bedeutung als Sozialisationsinstanz hingegen unverändert überragend. Daß Werte vermittelt werden, ist unstrittig. Die Frage ist nur, welche! Allerdings läßt sich gerade im Bereich Schule nichts verallgemeinern: Die einzelnen Institute sind zu verschieden, nicht nur von der Sozialstruktur her, so daß sich kein gemeinsamer Erfahrungshorizont aller Schüler konstatieren läßt. Richtig ist aber, daß die sozialen Probleme in der Schule nicht ab,- sondern zunehmen. Die Klassen werden nicht homogener, sondern heterogener. Auf die zeitgeistige Gewalt-an-Schulen-Diskussion soll hier mangels empirischer Erkenntnisse nicht eingegangen werden. Festzuhalten bleibt aber, daß unserem Schulsystem vorgeworfen wird, eher Fragen zu stellen als Antworten zu geben. Hier scheint es eine Diskrepanz zwischen Erwartungen (Schüler) und Wirklichkeit (Schule) zu geben und es wäre sicherlich fruchtbar, wenn eine folgenreiche Diskussion zum Thema "Selbstverständnis der Schularten" entfacht würde. Die Frage ist doch: "Muß die Idee (z.B. des Gymnasiums) den Ansprüchen der Schüler entsprechen oder umgekehrt?" Zweifelsohne bestritten werden kann aber, daß die Schule einheitliche Normen vermitteln würde, an denen sich die Schüler orientieren könnten. Die Schule kann auch nicht die Funktionen der Elternhäuser übernehmen, die ganz oder teilweise versagen.

Gleichaltrigengruppen werden für das Individuum, besonders am Anfang der Pubertät, immer wichtiger. In Zeiten einer ausgeprägten, ja geradezu forcierten Jugend(sub)kultur, vollzieht sich die Emanzipation vom Elternhaus und dessen Werten viel vehementer, absoluter und somit konfliktreicher als früher. Das liegt auch am Individualisierungsprozeß. Der junge Mensch hat eben mehr Optionen, seine Opposition auszuleben. Als neues Wertesystem mit vermeintlich hohem Individualisierungsgrad bietet sich die Jugendkultur, also die Gruppe der Gleichaltrigen, an, wenn es darum geht, sich von zu Hause abzunabeln. Allerdings herrscht hier oftmals ein erschreckender Konformitätszwang. Auch in diesem Fall wird, ähnlich wie beim Fundamentalismus, individuelle mit kollektiver Identität vertauscht. Nur besteht im Falle der Sozialisation durch die Gleichaltrigengruppe die Möglichkeit, durch Reifung gerade aus ihr heraus zu einem autonomen Subjekt zu werden. Man kann sagen, daß in dem Maße, wie ab einem bestimmten Zeitpunkt die Bedeutung der Sozialisationsinstanz Familie abnimmt, sie proportional auf seiten der Gleichaltrigengruppe zunimmt.

Es soll hier keine allgemeine Medienschelte betrieben werden (das kann der Zeitgeist besser), aber es ist unstrittig, daß den Medien, insbesondere den visuellen, heute viel mehr Bedeutung zukommt als früher. Auch hier kann interessanterweise ein Individualisierungsprozeß festgestellt werden: Durch immer vielfältigere Angebote kommt es auf der Rezipientenseite durch die steigende Zahl der Optionen zu einer Atomisierung der Erfahrungswelten und Konsumentengemeinschaft: Während sich früher noch die ganze Schule gemeinsam über das TV-Abendprogramm des Vortages unterhalten konnte, sind die heutigen Konsumgewohnheiten viel zu ausdifferenziert, als daß sich noch über gemeinsame Erfahrungen austauschen ließe.

Was wohl allen Sozialisationsinstanzen (oft mit Ausnahme der Familie) gemeinsam ist, ist ihre Propagierung des "Individualismus" als einzigem übergeordnetem Wert. Gemeint ist allerdings eher die Autonomisierung des Individuums und erreicht wird nicht selten das Gegenteil, die Atomisierung, weil zwar der Prozeß der Autonomisierung ("Selbstverwirklichung") überall rauschhaft gefeiert wird, keiner aber die Inhalte verrät. Methodisch wird allenfalls ein "kritischer Geist" und notfalls "Auflehnung" zur Durchsetzung der eigenen Interessen empfohlen, wie diese Selbständigkeit aber im Alltag erhalten werden soll, bleibt das Geheimnis von Schule, Jugendsubkultur und Hollywood-Filmen.

Den gesellschaftlichen Voraussetzungen in den USA, die dortige Entwicklung und die besonderen Zustände werden in Deutschland oft mißtrauisch verfolgt, was auf einem nicht-Verstehen können, teilweise auch auf einem nicht-Verstehen wollen beruht. Die dortige Situation kann sicherlich nicht als Vorbild dienen, aber einen Vorteil hat das dortige Schulsystem, was sicherlich auch ein allgemeines kulturelles Phänomen ist: Die Schüler lernen von Anfang an, daß sie einer bestimmten Gruppe angehören. Teamgeist und somit Solidarität werden praktisch erlernt. In Deutschland wird die Solidargemeinschaft auch ständig beschworen, aber eben nur theoretisch und ohne Auswirkungen auf die Wirklichkeit. Warum ? Weil niemand gelernt hat, das er Teil einer Gruppe ist und so kann er sich auch nicht für sie einsetzen. Zur Solidarität gehört erlernte und gewachsene Identität: Man muß eins sein können mit der Gruppe. In unseren Schulen wird aber eher das "Individualismusmodell" verkauft,- mit fatalen Folgen. Die Grenze zur Ellenbogenmentalität ist nämlich fließend...Der harte und vielgescholtene Konkurrenzdruck der amerikanischen Kultur wird in der amerikanischen Schule in einen sportiven Geist, den "class spirit" umgepolt, plötzlich macht Konkurrenz Spaß und nebenher lernen die Schüler, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen: In der schulischen Basketballmannschaft (eine gralsähnliche Einrichtung an allen High Schools, denn sie tragen das Selbstverständnis der Schule und der Gemeinde in sich), im Latin Club oder beim Bottle Drive,- einer für alle, alle für einen! Solidarität, die nichts anderes ist als ein Gemeinschafts,- ein Zugehörigkeitsgefühl, wird im Alltag gelebt und gelernt. In der Regel lieben amerikanische Schüler ihre Schule, denn sie ist ihr sozialer Mittelpunkt. Sie identifizieren sich damit. Und nur für das, was man ist, ist man auch bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sicherlich wurde hier ein wenig idealisiert. Ideale sind aber auch nicht dazu da, um sie zu verwirklichen. Sondern man soll sich an ihnen orientieren.

Die Chance des Kommunitarismus

Apropos Amerika: Sicherlich ist in den USA das soziale Gefälle ungleich größer als bei uns. Der Wettbewerbsdruck ist härter, der Sozialstaat bei weitem nicht so ausgeprägt wie bei uns. Das hat historische Gründe. Die Gesellschaft basiert auf einer anderen Philosophie, der Staat wurde auf einer anderen Idee aufgebaut, denn die USA sind als ehemaliges Kolonialland ein zwar ethnisch heterogenes Gefüge, die Staatsidee hingegen verbindet alle. Der öffentliche Raum hat eine andere Bedeutung als bei uns. Dementsprechend sind auch die Erwartungen der Bürger an den Staat andere und sie werden auch anders artikuliert. Funktionen, die bei uns eindeutig vom Staat erfüllt werden, wo er sogar vehement auf seinen Monopolstellungen beharrt hat (Bildung, Arbeitsvermittlung, Soziales, Kommunikation...) und die wir ganz selbstverständlich an den Staat verweisen, werden in den USA bevorzugt von privater Seite erfüllt. Nun kann man fragen, ob dieses aus "Not" so ist, daß also die private Seite diese Kompetenz übernehmen mußte, weil sonst ein Vakuum entstanden wäre, oder ob es sich aus dem gesellschaftlichen Selbstverständnis der Amerikaner ableiten läßt, daß sie den Staat für gar nicht kompetent in dieser oder jener Hinsicht erachten... Fest steht jedenfalls, daß soziales, unentgeltliches Engagement sehr weit verbreitet ist, daß sich der einzelne Bürger verantwortlich fühlt, sich einzusetzen: In der Nachbarschaft, für die Schule, in der Gemeinde...

In Anbetracht der weltweiten Krise des Sozialstaats muß gefragt werden, wie dieser entlastet werden kann. Das Problem ist für Deutschland besonders drängend, da der Sozialstaat bei uns sehr weit entwickelt worden ist und die Erwartungen an ihn ungleich höher sind als anderswo, insbesondere als in den angelsächsischen Ländern. Außerdem ist dessen Reform mißglückt, was verschiedene Ursachen hat (vgl. den erfolgreichen und sachlichen Umbau des europäischen Sozialstaates, Schwedens). Andere Gesellschaften, wie die der USA, sind eben, gerade weil der Sozialstaat ausgesprochen schwach ausgeprägt ist, sehr viel früher auf bestimmte Entwicklungen aufmerksam geworden und können deshalb auch viel besser damit umgehen.

Bemerkenswert ist eine soziale Bewegung in den USA, die des Kommunitarismus (lat. "communis" : "gemeinsam"). Kommunitaristen, allen voran ihr Kopf Amatai Etzioni, propagieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf unterster Ebene. Sie fragen, wie man Kompetenzen auf die möglichst unterster Ebene verlagert und dort erhält, um so den Staat, der ja nach oben hin immer abstrakter wird, zu entlasten. Sie sind davon überzeugt, daß "unten" die Menschen Verantwortung eher zu übernehmen bereit sind als "oben". Etzionis Ziel ist es, in zunehmend individualistischen Zeiten die Gemeinden zu stärken. Die Kommunitarier gehen davon aus, daß eine sich immer mehr atomisierende Gesellschaft ihre eigenen Grundlagen aufbraucht. Sie zweifeln an , daß unser individualistisches Menschenbild und der augenblickliche gesellschaftliche Zustand noch in der Lage sind, genügend Solidaritätspotentiale zu stiften, welche notwendige Voraussetzungen für ein Leben in Gemeinschaft sind. Der Kommunitarismus ist eine freiwillige Bewegung , ohne feste Ränder. Er läßt sich nicht staatlich verordnen. Er ist als eine Reaktion auf gesellschaftliche Desintegrationsentwicklungen und anomische Tendenzen zu sehen.

Der Kommunitarismus ist allerdings keine genuin US-amerikanische Erfindung. Dort wird diese Idee momentan nur besonders lautstark diskutiert und auch umgesetzt. Auch Präsident Clinton ist Verfechter der kommunitaristischen Idee.

Auch in Deutschland hat es im 19.Jh aufgrund der mißlichen sozialen Situation Ansätze zur Selbsthilfe gegeben. Konsumgenossenschaften und Wohnungsbaugenossenschaften sind zu Zeiten der Arbeiterbewegung Ausdruck von kommunitaristischen Bestrebungen gewesen. Auch unser ausgeprägtes Versicherungssystem hat seine Wurzeln in dieser Strömung.

Die Gefahr des Fundamentalismus

Würde man den Kommunitarismus als eine positive Antwort auf anomische Tendenzen ansprechen, so wäre der Fundamentalismus sicherlich eine negative. Hier gibt es zwei Möglichkeiten : Die säkulare, also weltliche, man würde in diesem Fall eher von einer politischen Ideologie sprechen, und die religiös-fundamentalistische (s.u.). Warum ist der Fundamentalismus so attraktiv für anomische Subjekte ? Seine Verlockung liegt wohl in zweierlei : Erstens im propagierten geschlossenen Weltbild und zweitens in der vermeintlichen Aufwertung des Subjekts, welches seine Identität sucht. Daß es sich fortan einer kollektiven Identität unterwerfen muß, statt einer individuellen, wurde schon gesagt. Ein "fundamentalistisches Leben" zu führen ist einfacher, als sich mit den Errungenschaften der Moderne auseinanderzusetzen. Vielen schwierigen Fragen und Zwiespältigkeiten des modernen Lebens kann mit einem fundamentalistischen Weltbild aus dem Wege gegangen werden. Viele Diskrepanzen können durch Setzungen gedeckelt werden, man kann sich immer auf "Gott" berufen: Auf einmal stellt sich die Frage nach Herkunft und Sinn des Lebens nicht mehr, quasi nebenbei wird noch ein für alle verständliches Welterklärungsmodell mitgeliefert. Ein Hauch von Fatalismus schwingt immer mit. Die Grenzen zwischen "gut" und "böse" werden wieder klar. Die Welt wird in ein mythisches Gewandt gekleidet,- alle Unerklärlichkeiten des Seins werden auf einmal auf Gott zurückgeführt, und, noch viel wichtiger : Sie bekommen dadurch einen Sinn. Das seelische Bedürfnis des Menschen nach Transzendenz wird wieder befriedigt, er braucht es nicht mehr auf illegitime Weise durch Ersatzsurrogate abzuspeisen. Die "transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Menschen" (George Lucazs) ist aufgehoben. Fundamentalismus bedeutet Rücknahme. Nicht nur der Moderne, sondern auch des eigenen Selbst. Ein passivistischer Zug der Fundamentalisten steht, bei aller religiösen Hyperaktivität, dem Zwang zur Selbstdefinition in der modernen Welt gegenüber. Es muß aber eine saubere Trennung zwischen religiösem fundamentalistischem Eiferertum und echter Frömmigkeit gemacht werden. Ersterer ist durch Intoleranz und durch das Drängen in den öffentlichen Raum, Letzterer durch ausleben des religiösen Potentials im privaten Raum gekennzeichnet. Ersterer strebt den Gottesstaat, also Zwang an, letzterer basiert auf freier Willensentscheidung: Es wird zwar auch für das Seelenheil der noch nicht Geretteten gehofft, aber im Mittelpunkt steht meist das eigene religiöse Erleben (auch das sicherlich eine neuzeitliche Ausdifferenzierung). Der Politologe Thomas Meyer hat diesen (vermeintlich ?) überwundenen Zwiespalt sehr anschaulich in einer Kurzdefinition zum Ausdruck gebracht:

"Fundamentalismus ist der selbstverschuldete Ausgang aus den Zumutungen des Selberdenkens, der Eigenverantwortung, der Begründungspflicht, der Unsicherheit und der Offenheit aller Geltungsansprüche, Herrschaftslegitimationen und Lebensformen, denen Denken und Leben durch Aufklärung und Moderne unumkehrbar ausgesetzt sind, in die Sicherheit und Geschlossenheit selbsterkorener absoluter Fundamente. Vor ihnen soll dann wieder alles Fragen halt machen, damit sie absoluten Halt geben können. (...).

Angesichts des Kompensationscharakters, welcher der Fundamentalismus offensichtlich für Viele auf individueller Ebene bedeutet, sollte ernsthaft gefragt werden, wo die Defizite der Moderne im Bedienen des Seelenhaushaltes des transzendenzbedürftigen Menschen liegen. Man ist nicht nur an Freuds Begriff vom "Unbehagen in der Kultur" erinnert, sondern auch an die Frage, wie weit Aufklärung soll? Es besteht nämlich der dringende Verdacht, daß die Moderne, wenn es um sinnstiftende Antworten geht, mit leeren Händen dasteht... Um so fataler, wenn sich dieses für unsere Schüler gerade in dem Stadium bewahrheiten sollte, in dem sie am meisten nach Identität suchen...

Sehr unterschiedlich sind die Motive für den Beitritt zu fundamentalistischen Bewegungen: In postindustriellen westlichen Staaten ist es wohl vornehmlich das Sinnvakuum, welches durch das sich-Ergeben in ein fundamentalistisches Weltbild ausgefüllt werden soll. In ärmeren Weltgegenden spielen auch materielle Motive eine Rolle. Oftmals sind es die Fundamentalisten, welche den verarmten Massen (z.B. in den Banlieus von Algier) eine Infrastruktur zur Grundversorgung bieten können. Hinzu kommt, daß z.B. in der arabischen Welt, welche seit den 70‘ern eine sichtbare Renaissance des islamischen Fundamentalismus erlebt, das Scheitern der Verwestlichung auf kultureller Ebene ebenfalls ein kollektives Identitätsproblem hinterlassen hat. Das Selbstverständnis der Araber war zum zweiten Mal, nach dem Scheitern des Panarabismus, angeschlagen. Man fühlte sich vom Westen "verraten", nach den Zusammenbrüchen der europäischen Kolonialreiche stellt sich die Frage nach den eigenen Wurzeln. So entdeckten viele die Religion als gemeinsames Erbe, welches sich hervorragend zur Identifikation eignet(e). Dabei darf aber nicht vergessen werden, daß es die arabische Welt nicht gibt, genausowenig, wie kein homogenes christliches Abendland existiert. Heute bezieht die arabische Welt ihr Selbstverständnis aus dem Islam, selbst wenn die einzelnen Staaten eine Säkularverfassung haben.

Wie soll man nun mit dem Phänomen des Fundamentalismus umgehen ?

II. Fundamentalismus

Definition, Entstehungsgeschichte und Abgrenzung

Unmittelbar verwoben mit dem Modernisierungsprozeß und den daraus resultierenden anomischen Tendenzen ist das Phänomen des religiösen Fundamentalismus. Würde man allein das in westlichen Medien eruierte Bild des Fundamentalismus als alleinigen Maßstab heranziehen, käme man auf den Gedanken, "religiöser Fundamentalismus" sei gleichbedeutend mit "islamischer militanter Fundamentalismus". Dieses Vorurteil ist falsch. Der Medienkonsument wäre überrascht, wenn man ihn über die Hintergründe des inzwischen inflationär verwandten Begriffes aufklären würde. Das Phänomen ist zweifelsohne viel älter als der Begriff selbst. Es ist eigentlich allen Weltreligionen immanent und tritt bei bestimmten historisch-gesellschaftlichen Konstellationen auf. Es setzt aber auf jeden Fall eine Gesellschaft mit modernen Ansätzen (z.B. säkular, pluralistisch, demokratisch, wissenschaftlich-technisch...) voraus, vor deren Folie sich fundamentalistische Tendenzen entfalten können.

Im späten 19.Jh entsteht die Bezeichnung zuerst in der protestantischen Bewegung Nordamerikas, und zwar nicht als Pejorativ (vgl. "Protestant" im 16. Jh.), sondern als Selbstbenennung. Radikale (vgl. lat. "radix" . "die Wurzel") Protestanten wollten so ihrem wortwörtlichen Verständnis der Heiligen Schrift Ausdruck verleihen, indem sie sich durch ihre Berufung auf das undiskutierbare "Fundament" der Bibel gegen gewisse Modernismustendenzen in Theologie und Gesellschaft abzugrenzen versuchten: In den USA entbrannte die Auseinandersetzung über den Modernisierungsprozeß bereits im letzten Jahrhundert besonders scharf. Dabei wandte sich eine evangelikale Bewegung, welche anfangs nicht unbedingt antimodernistisch agierte, gegen eine Verwässerung des Evangeliums durch kritisch-historische Exegesen der Heiligen Schrift. Das historische Ereignis ist aber das Aufkommen des Darwinismus und anderer wissenschaftlicher Meinungen (vgl. auch den "Basaltstreit" seit dem 18.Jh.), welche unvereinbar mit dem Schöpfungsbericht des Alten Testamentes waren, -vorausgesetzt, man will die Bibel wörtlich verstehen. Aus der evangelikalen Bewegung, welche ihre entfernten Wurzeln, mindestens aber Parallelen in der Reformationsbewegung des 15. Und 16. Jh. hat, sind neben christlichem Studentenbund und YMCA/CVJM, auch fundamentalistische Strömungen hervorgegangen. Wie auch bei anderen gesellschaftlichen Ereignissen, muß man auch hier zwischen Grund und Anlaß unterscheiden. Die Wurzeln fundamentalistischer Tendenzen liegen einerseits in den Religionen selbst (s.u.), andererseits sind sie im Modernisierungsprozeß angelegt, den Fundamentalisten ja bekämpfen:

Besonders für den christlich-abendländischen Kulturkreis sind, neben der darwinischen Lehre ("Evolutionismus"), zwei weitere geistige Paradigmenwechsel seit dem Mittelalter zu erkennen, die stellvertretend für andere, u.U. auch für den ganzen Modernisierungsprozeß stehen können: Die "kopernikanische Wende" und Freuds Psychoanalyse: In Hinsicht auf ein relativ einheitliches transzendentes Welt- und Menschenbild des Mittelalters, in dem der Mensch die "Krone der Schöpfung" darstellte, ist man versucht, von den "drei Erniedrigungen des neuzeitlichen Menschen" sprechen:

1. Die Erde dreht sich nicht um die Sonne. Somit steht der Mensch nicht mehr im Zentrum des Universums.

2. Der Mensch steht als ein nackter Affenähnlicher am Ende einer Jahrmillionen währenden Evolutionskette. Gott hat die Welt also nicht in sechs Schöpfungstagen vollendet, wie es die Genesis verheißt.

3. Der Mensch ist als triebgesteuertes Wesen dem Tierreich näher als Gott.

Man sollte auch bedenken, daß diese modernen Erkenntnisse nicht nur eine Entwürdigung des menschlichen Seins bedeuten, sondern auch gleichzeitig eine Fülle von weiteren Fragen, Ungewißheiten, Brüchen und Verunsicherungen mit sich bringen. Auf einmal klafft ein riesiges seelisches Loch (bemerkenswert : gerade die seelischen Bedürfnisse können offensichtlich nicht durch moderne Antworten befriedigt werden. Moderne Produkte wie etwa die Psychologie haben einen anderen Anspruch als den der Sinnstiftung,- nämlich über empirische Methoden Wahrheit, Erkenntnis herzustellen. Politische Ideologien versuchen diese Lücke tatsächlich zu füllen. Nicht nur ihr klägliches Scheitern entlarvt ihre Illegitimität in dieser Funktion: Sowohl ihr pseudowissenschaftlicher als auch ihr pseudoreligiöser Charakter hat sie in ihrer ganzen Unmenschlichkeit als allzu menschlich herausgestellt).

Fundamentalisten sind Antimodernisten. Sie versuchen, den Modernisierungsprozeß aufzuhalten und rückgängig zu machen . Sie sind grundsätzlich konservativ. Sie dürfen aber keinesfalls mit anderen radikalen oder offensiven Bewegungen und Gruppen verwechselt werden, schon gar nicht mit dem politischen Konservatismus. Wir wollen uns hier also nur dem religiösen Fundamentalismus zuwenden. Viele andere Bewegungen mögen sich noch so extremistisch gebärden, ihnen fehlen meist die typischen Merkmale fundamentalistischer Gruppen:

Feministen und Feministinnen fehlt, natürlich neben der religiösen Zielsetzung, das schriftliche Fundament, die orthodox interpretierbare Offenbarung. Auch den großen säkularen und totalitären Massenbewegungen des 20.Jhs (Kommunismus/Sozialismus und Nationalsozialismus) fehlten die religiösen Zielsetzungen, obwohl sie diesen Mangel in der "Orthopraxie" durch pseudoreligiöses Gehabe zu kompensieren suchten. Dem Nationalsozialismus fehlten zudem noch die verschriftlichten ideologischen Grundlagen, welche sich als "Fundament" hätten verkaufen lassen können. Beide waren allerdings auch antimodern und hatten charismatische Führerfiguren in ihren Reihen aufzuweisen, was sie dem "echten" Fundamentalismus durchaus ähnlich machte. Der Kommunismus besaß mit dem "Marxismus-Leninismus" zudem pseudowissenschaftliche Grundlagen, welche auch dogmatisiert wurden. Es wurde auch der Versuch gemacht, einige moderne Ausdifferenzierungen rückgängig zu machen ( vgl. den Versuch, eine "deutsche Physik" oder eine "sowjetische Biologie" zu etablieren), was aber scheitern mußte, wollte man sich weiterhin auf dem Pfad der seriösen Wissenschaft bewegen. Auch das Scheitern beider Systeme beweist, daß eine Rücknahme der Moderne auf Dauer und unter Zwang nicht möglich ist. Auch war es eine Zeitlang Mode, die deutsche grün-alternative Bewegung in "Fundis" und "Realos" zu unterteilen. Die einen standen dabei für Kompromißlosigkeit, die anderen für größere Realitätsnähe. In unserem Zusammenhang ist aber auch diese rein politische Bewegung vollkommen uninteressant.

Auch besonders konservative Personen oder Institutionen werden mitunter des "Fundamentalismus" bezichtigt, z.B. der Papst oder auch gleich die ganze römisch-katholische Kirche und mit ihr eine Milliarde Gläubige. Diese vorschnelle Etikettierung verrät natürlich mehr über den Betrachter denn über die vielgeschmähte Kirche. Weder Papst Johannes Paul II. noch die "Institution Volkskirche", egal, ob römisch-katholischen, evangelisch-lutherischen, griechisch-orthodoxen, anglikanischen oder reformierten Bekenntnisses sind fundamentalistisch, solange sich die Träger der Glaubensgemeinschaften für die verschiedenen Interpretationsansätze der Heiligen Schrift zugänglich zeigen. Sie sind allenfalls als wertkonservativ ("orthodox") zu bezeichnen. Dabei steht die historisch-kritische Methode zur Exegese im Gegensatz zum wortwörtlichen Textverständnis der Fundamentalisten, welche im wesentlichen ganz auf eine Auslegung der Heiligen Schrift verzichten, denn sie gehen von einer direkten Verbalinspiration des Schreibers aus: Gott hat sich geoffenbart und den Text selbst wörtlich eingegeben. Die historische Genese eines Textes oder gar einer Textsammlung (AT/NT) wird geleugnet. Im Verlaufe der beinahe zweitausend Jahre alten Kirchengeschichte mag es sicherlich einzelne "fundamentalistische" Ansätze und Vertreter gegeben haben (im vormodernen Gesellschaftszustand kann sich das dann nur auf ein wortwörtliches Textverständnis beschränken), aber der Papst und die ganze römisch-katholische Kirche steht in einer Lehrtradition, d.h. er ist Interpret. Im übrigen ist jeder Papst zuerst um die una sancta ecclesia, die Kircheneinheit bemüht. Er muß also von Berufs wegen ein Integralist sein. Paradoxerweise hat gerade Pius IX. mit dem I. Concilium vaticanum (1869/70), welches sich äußerst antimodernistisch gebärdete, das oberste und unfehlbare Lehrprimat des Pontifex maximus gesichert, somit nicht nur die unantastbare Stellung, sondern auch den Charakter der päpstlichen Institution als Exegeten, zementiert. Wer auslegt, kann kein Fundamentalist sein ! Im übrigen wurden durch das II. Concilium vaticanum (1962-65) unter Johannes XXIII. und seinem Nachfolger Paul VI. der antimodernistische Ansatz des vorangegangenen Konzils relativiert.

Hieße das nun, daß jede Abspaltung von den Großkirchen, daß jede Sekte und jede freikirchliche Gemeinde als fundamentalistisch zu bezeichnen ist? Hier muß sehr präzise von Gruppe zu Gruppe unterschieden werden. Schon Rom selbst ist ja eine erste Abspaltung von der Ostkirche. Die Wiedererrichtung einer orthodoxen Ostkirche in Rußland ist eine weitere Abspaltung der längst im Kirchenschisma lebenden una sancta ecclesia, die Reformationsbewegung, welche auch recht uneinheitlich verlief, zementierte das Schisma noch endgültiger. Natürlich sind diese Abspaltungen weder damals noch heute als fundamentalistisch anzusprechen, denn auch sie haben die Funktionen von Volkskirchen übernommen. Anders sieht dies bei einigen Sekten aus. Sie haben zumindest fundamentalistische Elemente. Die deutsche pietistische Bewegung hat sich immer den Vorwurf gefallen lassen müssen, fundamentalistisch zu sein. Sicherlich gab und gibt es einzelne Elemente in dieser Färbung, aber die überwiegende Mehrheit bekennt sich zur Badischen Landeskirche.

Schon bei den "Zeugen Jehovas" haben wir deutliche Ansätze zum Fundamentalismus, so ist ihr Bibelverständnis selektiv und wortwörtlich. Interpretationen der zentralen Stellen werden nicht zugelassen, Zahlenangaben ("die 144.000 geretteten Seelen") werden wörtlich genommen. Auch missionieren sie offensiv und versuchen neuerdings, Körperschaftsstatus zu erlangen, was ein Griff nach gesellschaftlichem Einfluß bedeutet.

Auch viele agrarische Sektierergemeinschaften, welche aus der deutschen Reformationsbewegung hervorgegangen sind, haben einzelne fundamentalistische Elemente. Auch ihr Textverständnis ist durch eigene Interpreten des 16. Und 17. Jh. dogmatisiert, ihre Lebenspraxis hingegen ist durch Rückzug, Weltabgewandtheit gekennzeichnet. Sie wollen die Welt nicht verändern, sondern ihr eigenes Seelenheil retten. Beispiele sind Hutterer, Mennoniten, Amische, auch wenn sich nicht alle Anabaptisten in einen Topf werfen lassen.

Wer ist nun Fundamentalist?

Das Harvard-Fundamentalismus-Projekt

Zur genauen Bestimmung der an fundamentalistische Gruppen anzulegenden Kriterien hat die US-amerikanische Harvard-Universität ein umfassendes "Fundamentalismus-Forschungsprojekt" bearbeitet. Träger war die amerikanische Akademie der Wissenschaften. Die Ausgangsfrage der Untersuchung lautet: "Was sind die Gemeinsamkeiten der religiösen fundamentalistischen Bewegungen?"

Folgende Merkmale können laut Studie als allen religös-fundamentalistischen Bewegungen immanent betrachtet werden:

Ein totalitärer Anspruch. Es wird die Ganzheit von Staat und Gesellschaft angestrebt. Religiös-fundamentalistische Gruppen sind anti-pluralistisch. Ziel ist die Theokratie, der Gottesstaat.

Fundamentalisten stützen sich auf grundsätzliche religiöse Schriften oder auf Auszüge daraus. Die "heiligen Schriften" werden absolut gesetzt und wortwörtlich gelesen. Auf jegliche Auslegung der Texte, welche als direkt von Gott eingegeben und als verbalinspiriert betrachtet werden, wird verzichtet.

Fundamentalisten sind aktivistisch. Sie wollen die Welt aktiv verändern, sie verstehen sich als "Bewegung" mit einer Heilsbotschaft und wollen missionieren. Ihr Verhalten steht dem weltabgewandter Sekten diametral entgegen: Traditionalistisch-agrarische Sektierer leben isoliert von der als verderblich empfundenen Welt. Sie schließen sich von der modernen Welt, in der sie eine Gefahr sehen, ab (vgl. Hutterer, Amische, Mennoniten). Beispiele für aktivistisch-religiöse Gruppen sind die "Islamische Heilsfront"FIS und der GIA in Algerien, die Taliban in Afghanistan, sowie einige Muslimbrüderschaften in Ägypten. Auch die inzwischen verbotene türkische Wohlfahrtspartei Erbakans "Refah" ist als aktivistische Funamentalistenbewegung zu sehen. Bei vielen nahöstlichen Terrorgruppen, z.B. im Libanon, überwiegen bei allem Aktivismus terroristische Motivationen.

Patriarchalische Struktur: Fundamentalistische Führer sind Charismatiker (vgl. griech.: "Begabung zu außergewöhnlichem Gemeindedienst"). Ihre Legitimation beziehen sie nicht aus Wahlergebnissen oder Sachargumenten, sondern aus ihrer Ausstrahlung, ihrer rhetorischen Kompetenz, ihrem massenpsychologischen Populismus und aus der Faszination, die von ihnen ausgeht. Sie überzeugen durch Persönlichkeit. Die Führer sind ausnahmslos Männer. Dieses Charismaphänomen läßt sich auch in den säkularen totalitären Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts beobachten: Stalin, Lenin, Hitler, Mao, Mussolini, R. Luxemburg und Goebbels waren Charismatiker, nicht sachlich überzeugende Führerpersönlichkeiten.

Fundamentalisten sind in der Methodenwahl nicht antimodernistisch. Horckheimer spricht von der "halbierten Moderne". Insbesondere zur Unterstützung der eigenen Propaganda bedienen sich die Bewegungen modernster Medien und Psychotechnik. Auch hierin unterscheiden sie sich deutlich von den zurückgezogen lebenden agrarisch-sektiererischen Gruppen. Diese verzichten meist auf Missionierung, brauchen sich also keine Gedanken über die Methodenwahl zu machen. Die Ziele der Fundamentalisten sind hingegen als ausgesprochen antimodern zu bezeichnen. Gesellschaftliche Ausdifferenzierungen sollen rückgängig gemacht werden, in den meisten Fällen soll eine Theokratie errichtet werden.

Revolutionäre Praxis: Die Welt soll durch Militanz erneuert werden. Der Ablauf gleicht sich von Fall zu Fall: Zuerst formiert sich eine Avantgarde, Intellektuelle geben die Schlagwörter und Theorien vor. Daraufhin versucht eine kleine radikale Minderheit, die Macht im Staate zu erringen, bis es zu einer militanten Auseinandersetzung mit dem etablierten System kommt. Auch hier können als Beispiele die totalitären Systeme des 20.Jhs angesehen werden. Abzugrenzen ist der Verlauf der französischen Revolution: Mißernten und Not gingen den Aufständen voran,- diese waren nicht ideologisch motiviert. Ein klares Programm ist anfangs nicht auszumachen, obwohl in den Salons jahrzehntelang vorher diskutiert wurde. Danach sind mehrere revolutionäre Phasen zu unterscheiden, die sich inhaltlich voneinander unterscheiden.

Die Tendenz zur Selbstreinigung: Die puristische Gemeinschaft der Gläubigen setzt sich deutlich von Abtrünnigen in den eigenen Reihen ab. "Ketzerei" im Innern stellt für den Zusammenhalt und die Totalität der Gemeinde eine größere Gefahr dar als Anfechtungen von außen. Gegen die Außenwelt grenzt man sich eh deutlich genug ab, meist werden ja auch deren Werte abgelehnt. Es wird mit äußerster Vehemenz, notfalls mit Gewalt gegen "Abtrünnige" von innen vorgegangen. Exklusivitätsansprüche der Gläubigen führen dann zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die Zahlen der "Säuberungsopfer" gehen dann in die Zehntausende. Ein aktuelles Beispiel wäre Algerien. Dort stehen den 40.000 geschätzten Opfern aus den eigenen (islamistischen) Reihen nur etwa 100 ermordete Ausländer gegenüber.

Regionale Begrenzung: Die Aktionsräume der Fundamentalisten beschränken sich in der revolutionären Phase meist auf das eigene Staatsterritorium und das eigene Volk und somit die potentielle Glaubensgemeinschaft. So interessiert sich die "Islamische Heilsfront" FIS und auch der GIA vornehmlich für die Situation in Algerien. Wenn auch das Endziel die islamische Weltrevolution sein mag.

Enklavencharakter: Fundamentalisten ziehen sich zu den Ursprüngen, den vermeintlichen Grundlagen ihres Glaubens zurück, um sich gegen den "Modernismus" abzugrenzen. Anschließend treten sie wieder aus dieser "Nische" als aktivistisch-radikalisierte Bewegung mit missionarischem Anspruch heraus.

Kommunitaristische Elemente: Fundamentalisten bauen, insbesondere in den Staaten mit einem hohen Verelendungsgrad, soziale Netzwerke von unten auf. Dort, wo der Sozialstaat versagt oder nicht existiert, sind diese "caritativen" Einrichtungen oft die einzige Rettung und Chance für Hunderttausende. So werden Schulen und Krankenhäuser zur Grundversorgung geschaffen. Die Motive zur Errichtung dieser Infrastruktur entspringen einerseits einer religiös-caritativen Grundlage und andererseits propagandistischen "Bauernfänger"-Absichten.

Identitätsfindung: Fundamentalisten versprechen, das "Identitätsproblem", eine Begleiterscheinung der Moderne, für das Individuum zu lösen. Das verunsicherte Subjekt wird zunächst eine Stabilitätserfahrung durch die neue Zugehörigkeit zur Gemeinde machen, dieses wird aber durch hohe Konformität erkauft. Die Hoffnung auf individuelle Identität wird also mit einer kollektiven Identität vertauscht. Wobei man fragen muß, ob der Wunsch nach einer "individuellen Identität" nicht ein allzu eurozentristischer Gedanke wäre...

Weltreligionen und Fundamentalismus

Es ist eingangs behauptet worden, daß alle Weltreligionen anfällig für den Fundamentalismus seien. Dazu muß erst einmal gefragt werden, was Religion eigentlich ist und welche Strukturen und Teilsysteme unter dem Oberbegriff "Religion" zusammengefaßt werden.

"Religion ...kann definiert werden als ein System von Überzeugungen und Praktiken, durch welche eine Gruppe von Menschen mit den letzten Problemen des menschlichen Lebens ringt. Sie drückt ihre Weigerung aus, vor dem Tod zu kapitulieren, aufzugeben angesichts der Enttäuschung, der Feindseligkeit zu gestatten, menschliche Gemeinschaft zu zerstören. Die Qualität der religiösen Existenz ... beinhaltet zwei Dinge: Erstens: einen Glauben, daß das Übel, der Schmerz, die Verwirrung und das Unrecht fundamentale Tatsachen des Lebens sind; und zweitens: ein System von Praktiken und damit verbundenen geheiligten Überzeugungen, die die Überzeugung ausdrücken, daß der Mensch letztlich von diesen Tatsachen erlöst werden kann"(Y.M.Yinger, 1970).

Religion ist also Antwort auf die Sinnfrage des Lebens. Religion ist ein System von gelebten Sinnantworten (Kienzler). Dabei können wir deutlich mehrere Element dessen abgrenzen, was Religion konstituiert: Es gibt eine schriftliche Überlieferung (monotheistische Religionen) der Offenbarung Gottes (Bibel, Koran). Es gibt eine mündliche Überlieferung (Tradition). Außerdem unterscheiden wir zwischen der Orthodoxie der Religion (die Lehre des rechten Glaubens) und der Orthopraxie der Religion (die Lehre der rechten Lebenspraxis). Die Gläubigen glauben nicht an irgend einen Gott, sondern an einen bestimmten, welcher sich ihnen durch sein Wort (die Schrift) geoffenbart hat. Daraus läßt sich der "rechte Glauben" in Theorie und Lebenspraxis ableiten.

Wichtig nun ist in unserem Zusammenhang, daß die Weltreligionen die o.g. Elemente unterschiedlich akzentuieren, woraus sich auch verschiedene Ansatzpunkte des religiösen Fundamentalismus ergeben.

Beim Christentum liegt der Schwerpunkt auf der Orthodoxie. Das drückt auch die besondere Betonung des Lehrprimats des Papstes aus. Die Heilige Schrift bedarf der Auslegung, und zwar der richtigen. Man sollte aber zwischen den einzelnen Bekenntnissen unterscheiden: So legt der Protestantismus mehr Wert auf die richtige Auslegung der Schrift, was unmittelbar aus den Ideen der Reformation abzuleiten ist,- während die römisch-katholische Kirche das Gewicht auf die Tradition und hier besonders auf das Lehramt legt.

Im Islam hingegen können wir sowohl eine Gefahr in der Orthodoxie als auch in der Orthopraxie erkennen. Der Islam ist seinem Ursprung nach eine prophetische Schau des Verhältnisses von Allah und Mensch."Islam" bedeutet "ganz bei Gott sein", "sein Antlitz ganz Gott zuwenden". Es ist sowohl ein religiös-transzendenter Zustand, als auch ein gesellschaftlicher (und "historischer"). Deshalb drückt sich für den Moslem die Gottesnähe durch die "richtige Lebenspraxis" aus, welche gottgefällig sein muß. Die Betonung der "scharia", des islamischen Gesetzes, drückt die Wichtigkeit der Orthopraxie der Religion als richtige Lebenspraxis in Gemeinschaft, besonders deutlich aus. Der Koran, neben dem "Hadith", dem (angeblichen) Prophetenkommentar (Mohammed war Analphabet), die Quelle der Gottesoffenbarung, wird von den Moslems als unantastbar, da direkt von Gott, also verbalinspiriert, betrachtet. Die Grenze zum Gottesstaat ist, wenn sich religiöse Intoleranz einstellt, leicht überschritten.

Die Gefahr des moralischen Rigorismus ist auch im Judentum besonders stark ausgeprägt. Da das Judentum per se eine interpretierende Buchreligion ist, wird mehr Wert auf die Orthopraxie, also den religionsgesetzlichen Bereich, gelegt, bis hin zur skrupulösen Beachtung der Religionsgesetze, der "Halacha". Grundlage des Judentum ist seit Jahrtausenden die Tora ("Lehre", "Weisung"): Diese setzt sich zusammen aus der schriftlichen hebräischen Bibel und dem "mündlichen" Talmud. Dabei wird die Bibel vom Talmut durch jeweilige Auslegung durch die Rabbiner flankiert. Das Judentum kennt aber kein Lehramt wie etwa die römisch-katholische Kirche. Aufgabe der Schriftgelehrten ist es, sich ständig mit der Tora zu beschäftigen und sie für alle Bereiche des Lebens auszulegen und anzuwenden. Die Tora läßt keine Trennung zwischen weltlichem und säkularem Lebensbereich zu. Die "Halachot" (die einzelnen religionsgesetzlichen Bestimmungen) können durchaus widersprüchlich sein, was ihre Bedeutung keineswegs mindert. Die Übernahme der einzelnen Halachot hängt von der Gelehrsamkeit und Überzeugungskraft der rabbinischen Autorität ab. Eine Dogmenbildung ist somit, ebenso wie eine fundamentalistische Lektüre der Bibel, unmöglich. Beide, Bibel und Talmud, werden direkt auf Moses zurückgeführt. Bei Mose heißt es aber auch: "Macht einen Zaun um die Tora" (Abot I,1). Dieser Zaun, kann also von den Rabbinern enger oder weiter ausgelegt werden. Das schützt einerseits vor fundamentalistischen Ansätzen, kehrt sich aber ins fundamentalistische Gegenteil, wenn radikale Gruppen sich dem Grundsatz verweigern, zu allen Zeiten über die Weite des "Zauns um die Tora" zu disputieren. Die Gefahren liegen also im halachischen Bereich, wenn ultraorthodoxe Gruppen versuchen, die Religionsgesetze auf der staatlichen Ebene durchzusetzen und zu verankern.

Helge Martens




Literatur

· Boudon, R./Bourricard, F. : Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. Opladen 1992.
· Denzler, G.: Das Papsttum. Geschichte und Gegenwart. München 1997.
· Heitmeyer, W./Müller, J./Schröder, H.: Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland. Frankfurt/M. 1997.
· Heitmeyer, W. (Hg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Bd. 1. Frankfurt/M. 1997.
· ders. (Hg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland : Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Bd. 2. Frankfurt/M. 1997.
· Kienzler, K.: Der religiöse Fundamentalismus. Christentum, Judentum, Islam. München 1996.
· Spiegel special: Rätsel Islam. Weltmacht hinterm Schleier. H. 1, 1998.
· Tibi, B.: Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte. München 1996. S. 187-216.

Außerdem sämtliche Seminarunterlagen zu dem Seminar : "Anomie und Fundamentalismus" im Sommersemester 1996.




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