Die Sloterdijk-Debatte - S(ch)ichtung eines Skandals
95. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 25.01.2000 von Stefan Nehrkorn
Die Elmauer Rede (EXTERN)
Tsp.-Interview zur Sloterdijk-Debatte
Aufklärung als Kränkungsgeschichte
Peter Sloterdijk wurde 1983 durch die "Kritik der zynischen Vernunft" (KdzV) über den Kreis
der akademischen Philosophie hinaus bekannt. Nach zahlreichen Veröffentlichungen sind seit
1998 bereits zwei Bände seines als Trilogie angelegten Hauptwerks "Sphären" erschienen,
in denen er unter philosophisch-anthropologischem Blickwinkel eine Zusammenschau der
unterschiedlichen Weisheitstraditionen versucht, um den (Zitat) "beseelten Raum" der
Gattungsgeschichte auszuloten. Den oft vorausgesagten Tod der Philosophie kontert er mit dem
Versuch, ein scheinbar antiquiertes metaphysisches Vokabular weiterhin zu sprechen.
In Sphären II (S.139) schreibt Sloterdijk:
"Das vorliegende Buch (ist) ein Mausoleum des All-Einheitsgedankens (...).
Kann man in Fragen des Mausoleum-Baus noch etwas von Stalin lernen? Durchaus, denn da auch wir
vorhaben, die Metaphysik in einem gläsernen Sarg zu präsentieren, gehört es sich,
daß wir die Tote so zeigen, als schlafe sie nur."
Am 16. Juli 1999 hielt Peter Sloterdijk im Rahmen eines Philosophenkongresses über Martin
Heidegger einen Vortrag mit dem Titel "Regeln für den Menschenpark? Ein Antwortschreiben
zum Brief über den Humanismus". Das Auditorium stellte damals lediglich eine
Rückfrage und fuhr fort. Anfang September erschien im Feuilleton der ZEIT unter dem Titel "Das
Zarathustra-Projekt" ein Artikel, der Sloterdijk des "faschistoiden Sprachgebrauchs" bezichtigte.
Der SPIEGEL sprach von Peter Sloterdijk als dem "Züchter des Übermenschen". Ein Skandal
schien losgetreten. Die ZEIT druckte am 16.9. die Rede ab. Sloterdijk wandte sich in einem
zweiteiligen offenen Brief an den Autor des ZEIT-Artikels und an Jürgen Habermas, dem er
vorwarf, den Skandal durch Lesartempfehlungen an die ZEIT initiiert zu haben. Die FAZ druckte
einige Tage darauf einen handgeschriebenen Brief von Habermas an den ZEIT-Redakteur Thomas Assheuer
vom 18.8.99 ab, in dem Habermas eine publizistische Kampagne gegen diese "Grenzüberschreitung"
nahelegte.
Die Sloterdijk-Debatte spielt(e) auf unterschiedlichen Ebenen:
Zum einen ist es die seit langem publizistisch begleitete Auseinandersetzung Sloterdijks mit der
"Frankfurter Schule", deren Kritikformen er bereits 1983 für schwach hielt: "Ihr Vorurteil lautet, daß aus dieser Welt nur böse Macht gegen das Lebendige
kommen könne. Hierin gründet die Stagnation der Kritischen Theorie. Die Offensivwirkung
des Sichverweigerns hat sich längst erschöpft. Das masochistische Element hat das
kreative überflügelt (KdzV 1983, S.22)."
Eine zweite Ebene wurde durch die Kommentatoren eröffnet, die Sloterdijk zum Vordenker der
Berliner Republik machten, da er der Zeit des Nationalsozialismus nicht
den nötigen Stellenwert beimesse.
Die dritte Ebene hebt auf die ethischen Konsequenzen der Elmauer Rede ab. Einige wenige
extrapolierten den Text zum "Gesetzeswerk der Anthropotechniken".
Solch totale Züge trägt die Rede -nach Sloterdijk- nicht. Er möchte die
Durchdringung der Kulturtechniken anders beschrieben sehen als durch "eine Art (des)
autohypnotischen Rückzugs hinter das religiöse
Nicht-Wissen-und-Nicht-Können-Wollen" (Tsp. 27.9.99).
Seine gedankliche Kompositionstechnik ähnelt der "enharmonischen Verwechslung": Was die
Kulturphilosophen für Kränkungen des Menschen halten (Kopernikus, Darwin, Freud)
beschreibt Sloterdijk als "Aufhebung metaphysischer Diskontinuität":
Kopernikus rückte die Erde aus dem Mittelpunkt ins All, Darwin machte die Grenze zwischen Tier
und Mensch zum Kontinuum, Freud schmolz die Diskontinuität des Bewußten und
Unbewußten ein. An anderer Stelle schildert Sloterdijk die Aufklärung als Geschichte von Kränkungen.
Als in Auflösung befindlich macht der Autor in seiner Elmauer Rede das Spannungsfeld einer
vierten Diskontinuität aus: Mensch und Technik oder - Zähmung und Züchtung.
Die Elmauer Rede ist als Antwort auf den Brief über den Humanismus von Heidegger aus dem Jahr
1946 konzipiert. Heidegger schreibt darin Jean Beaufret seine Gedanken über das Scheitern des
Humanismus als übergreifender Idee nach den Erfahrungen zweier Weltkriege, die der Humanismus
nicht zu verhindern wußte. Heidegger macht als eine der Ursachen für diese
Bildungskatastrophen die "Seinsvergessenheit" aus.
Sloterdijk gräbt
sich - von Heidegger über Nietzsche zu Platon - ins Archiv.
Die Rede Sloterdijks beginnt wie folgt:
"Bücher, so hat der Dichter Jean Paul einmal bemerkt, sind dickere Briefe an Freunde. Mit
diesem Satz hat er Wesen und Funktion des Humanismus quintessentiell und anmutig beim Namen
genannt: Er ist freundschaftstiftende Telekommunikation im Medium der Schrift. Was von den Tagen
Ciceros an humanitas heißt, gehört im engsten und weitesten Sinne zu den Folgen der
Alphabetisierung. Seit es die Philosophie als literarisches Genre gibt, rekrutiert sie ihre
Anhänger dadurch, daß sie auf infektiöse Weise über Liebe und Freundschaft
schreibt."
Im Wissen, daß Zitate krummen Draht zurechtbiegen, und stilistisch ironische Eigenheiten Sloterdijks einer durch Ausschnittvergrößerung entstehenden Stringenz geopfert werden, möge die nachstehende Sammlung -dem Verlauf des Texts folgend-, die Konstruktion des Texts trotzdem entschlüsseln helfen. Vielleicht legt sie einem eher die Lektüre der gesamten
Elmauer Rede (Extern) nahe.
"Humanismus als Wort und Sache hat immer ein Wogegen, denn er ist das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei."
"Christentum, Marxismus und Existentialismus (durch Heidegger) Seite an Seite als Spielarten des Humanismus charakterisiert, die sich nur in der Oberflächenstruktur voneinander unterscheiden - schärfer gesagt: als drei Arten und Weisen, der letzten Radikalität der Frage nach dem Wesen des Menschen auszuweichen."
"Was Heidegger die Gewißheit gibt, mit diesen Wendungen den Humanismus überdacht und überboten zu haben, ist der Umstand, daß er den Menschen, als Lichtung des Seins begriffen, in eine Zähmung und eine Befreundung einbezieht, die tiefer gehen als jede humanistische Entbestialisierung und jede gebildete Liebe zu dem Text, der von Liebe spricht, jemals reichen könnte."
"Mit der Zähmung des Menschen durch das Haus beginnt zugleich das Epos von den Haustieren"
"Und Zarathustra blieb stehen und dachte nach. Endlich sagte er betrübt: ‚Es ist alles klein geworden! (...) Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht (...)' "
"Ohne Zweifel verbirgt sich in dieser (Nietzsches) rhapsodischen Spruchfolge ein theoretischer Diskurs über den Menschen als eine zähmende und züchtende Gewalt."
"Aber der Diskurs über die Differenz und Verschränkung von Zähmung und Züchtung, ja überhaupt der Hinweis auf die Dämmerung eines Bewußtseins von Menschenproduktionen und allgemeiner gesprochen: von Anthropotechniken- dies sind Vorgaben, von denen das heutige Denken den Blick nicht abwenden kann, es sei denn, es wollte sich von neuem der Verharmlosung widmen."
"Daß die Domestikation des Menschen das große Ungedachte ist, vor dem der Humanismus von der Antike bis in die Gegenwart die Augen abwandte- dies einzusehen genügt, um in tiefe Wasser zu geraten."
"Da bloße Weigerungen oder Demissionen an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren."
"Wer hat Atem genug, sich eine Weltzeit vorzustellen, in der Nietzsche so historisch sein wird wie Plato es für Nietzsche war? Es genügt, sich klar zu machen, daß die nächsten langen Zeitspannen für die Menschheit Perioden der gattungspolitischen Entscheidung sein werden."
"Seit dem Politikos und der Politeia sind Reden in der Welt, die von der Menschengemeinschaft sprechen wie von einem zoologischen Park ..."
"Was nun den platonischen Zoo und seine Neu-Einrichtung anbelangt, so geht es bei ihm um alles in der Welt darum, zu erfahren, ob zwischen der Population und der Direktion eine nur graduelle oder eine spezifische Differenz besteht."
"Platos gefährlicher Sinn für gefährliche Themen trifft den blinden Fleck aller hochkulturellen Pädagogiken und Politiken- die aktuelle Ungleichheit der Menschen vor dem Wissen, das Macht gibt."
"Für den modernen Leser -der zurückblickt auf die humanistischen Gymnasien der Bürgerzeit und auf die faschistische Eugenik, zugleich auch schon vorausschaut ins biotechnologische Zeitalter- ist die Explosivität dieser Überlegungen unmöglich zu verkennen."
Sloterdijks Rede schließt mit dem Satz:
"Für die wenigen, die sich noch in den Archiven umsehen, drängt sich die Ansicht auf, unser Leben sei die verworrene Antwort auf Fragen, von denen wir vergessen haben, wo sie gestellt wurden."
(EXTERN) Die Elmauer Rede
Weiterführende Links:
Die Sphären Peter Sloterdijks
(EXTERN) Menschenpark als Scherzo
(Nachtrag 2001)
Aufklärung als Kränkungsgeschichte
Auszüge aus Peter Sloterdijk: Nicht gerettet, Frankfurt 2001 / Aufsatz: Kränkung durch Maschinen, S. 338 ff.
"Der subjektive Preis der Aufklärung"
"Die jüngere Biologie hat uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, das physische Leben des Individuums sei gleichbedeutend mit der Erfolgsphase seines Immunsystems. Leben erscheint in diesem Licht als das wundersame Drama der gelungenen Abgrenzung von Organismen gegen invasive Umwelten. In Erweiterung dieses systemischen Ansatzes liegt es nahe, das Prinzip Immunität nicht nur biochemisch zu verstehen, sondern auch psychodynamisch und mental. Unter diesem Aspekt ist es als eine Leistung organismischer Vitalität beim Menschen anzusehen, daß dieser, als Einzelner wie als Gruppenwesen, zu einer spontanen und energischen Bevorzugung seiner eigenen Lebensweise, seiner Wertschätzungen, seiner Überzeugungen und seiner weltauslegenden Geschichten fähig ist. Aus systemischem Blickwinkel sind kraftvolle Narzißmen Anzeichen für eine geglückte affektive und kognitive Integration des Menschen in sich selbst, in sein moralisches Kollektiv und seine Kultur. Belastbarer Narzißmus bei Einzelnen wie bei Gruppen wäre die unmittelbare Selbstanzeige einer vitalen Erfolgsgeschichte, die es ihren Trägern bisher erlaubt hat, sich in einem Kontinuum von Selbstbejahungen und Selbstbevorzugungen zu bewegen.
Wo der narzißtische Schild intakt ist, dort lebt das Individuum in der Überzeugung von dem unüberbietbaren Vorteil, es selbst zu sein. Es kann permanent seine Ähnlichkeit mit sich selber feiern. (...) Invasive Informationen, die den narzißtischen Schild eines psychischen Organismus durchschlagen, nennt man umgangssprachlich Kränkungen. Bei verletztem Stolz macht das Individuum die Erfahrung, daß eine zunächst nicht abwehrbare Information eingedrungen ist, durch die es sich in einem Zustand von verlorener Integrität erlebt. Kränkung ist der Schmerz, von etwas durchschlagen worden zu sein, was momentan oder nachhaltig stärker ist als die narzißtische Homöostase. (...) Nicht jede beliebige Verletzung wirkt kränkend, sondern nur diejenige Invasion des Organismus, die ihn vom Nachteil, er selbst zu sein, überzeugt. Gleichwohl scheint die menschliche Intelligenz über die Fähigkeit zu verfügen, solche Nachteilserfahrungen zu verwinden und sie in reifere Zustände zu integrieren. (...) Das gereifte Individuum genießt den Vorteil, es selbst zu sein nach Überwindung von Episoden, in denen es mit dem Nachteil, es selbst zu sein, seine Erfahrungen gemacht hat. Goethe hat die Stellung des posttraumatischen Narzißmus klassisch formuliert: Vergangene Leiden hab ich lieb.
Mit der spekulativen Erweiterung des Konzepts Immunität habe ich einen Hintergrund gewonnen, vor dem sich die von Sigmund Freud in die Welt gesetzte Legende von den drei Kränkungen der neuzeitlichen Menschheit durch die Wissenschaften kritisch lesen läßt. (...) Der künstliche Mythos ist nicht ohne Finesse konstruiert, zum einen, weil er den nicht genannten Namen Freuds in die Sukzession der Autoritäten Kopernikus und Darwin rückt, zum anderen, weil er so etwas wie eine Teleologie im Prozeß der Kränkungen vermuten läßt, insofern die Reihe vom Kosmologischen über das Biologische zum Psychologischen eine zunehmende Subjektivierung vorgibt. Der Begriff Kränkung nimmt in dieser Geschichte eine intimer werdende kognitive Färbung an. (...) Der Preis der Aufklärung über die Lage und Funktion des Menschen in der Evolution - so scheint Freud im Anschluß an Nietzsche sagen zu wollen - ist die Vertreibung aus den narzißtisch-illusionären Paradiesen.
Bemerkenswert ist, daß solche Aussichten den kühnen Psychologen nicht zu dem Schluß bringen, von seinem Unternehmen abzulassen. (...) Aus seinem stoischen Willen zur Nüchternheit leitet er das Recht, ja die Pflicht zu einem gewissen publizistischen Sadismus ab. Er ist offenbar stolz auf seine Fähigkeit, sich früher als andere den historisch fälligen Kränkungen auszusetzen, um diese an ein Publikum von noch zu Kränkenden weiterzugeben. (...) Bei solcher Darstellung erweist sich die Aufklärung als ein böses Spiel. Soweit sie als Kränkungsgeschichte fortschreiten muß, wäre sie der Versuch, den Retrovirus des Wissens in die narzißtischen Immunsysteme einer noch in Illusionen geborgenen Gruppe einzuimpfen, damit er diese von innen her dekonstruiert. Der Aufklärer ist der Freund, der meine Illusion nicht gerettet hat. (...)
Der Gesamtprozeß hat den Charakter einer nihilistischen Kettenbriefaktion, bei der - wie bei allen Unternehmen dieser Art - die späteren Empfänger nur noch Verlierer sein können. Für diejenigen hingegen, die rechtzeitig zu Weitervermittlern von Kränkungen werden, bleibt das Unternehmen Aufklärung in narzißmus-ökonomischer Sicht ein Gewinnspiel, solange sie Wege finden, die kontemplative Illusion gegen operative oder zumindest destruktive beziehungsweise "kritische" Macht zu tauschen. Dieser Tausch ist psychodynamisch die Primärtransaktion der Aufklärung. Er erklärt, warum ein so prekäres Unterfangen wie die allmähliche Zersetzung des anthropologischen Narzißmus mitsamt seinen Mittelpunkt-, Identitäts- und Souveränitätsillusionen so große Zahlen von aktiven Mitspielern rekrutiert. (...)"
Mit Hilfe dieser Betrachtungsweise leuchtet der Aufsatz die Medizingeschichte "kränkungsgeschichtlich" aus und schließt wie folgt:
"Der Vorteil, Technologe zu sein, war nie größer als jetzt. Den humanen Kompromiß wird es in der hochtechnischen Medizin so lange geben, wie sich Ärzte finden, die den Nachteil, ein Mensch zu sein, mit ihren Patienten zu fairen Bedingungen teilen." (S. 366)
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