Anmerkungen zur Reichskrone

149. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 23.06.03 von Helge Martens

Abbildung der Reichskrone

Die Reichskrone des Heiligen Römischen Reiches ist nicht nur eines der prominentesten Exponate der Wiener Schatzkammer-Sammlung, sondern auch ein bedeutendes Objekt der deutschen und europäischen Geschichte, an dem sich Denkweisen und Glaubensinhalte vergangener Epochen erläutern lassen. Drei Zugänge bieten sich an, um den wesentlichen Aspekten gerecht zu werden:


Die Reichskrone als ein kunsthistorisches Objekt.

Die Reichskrone als ein herrschaftliches Objekt.

Die Reichskrone als ein kultisches Objekt.



1. Die Reichskrone ist ein kunsthistorisches Objekt.
Beschreibung - Geschichte - Funktion

Die Reichskrone (im Folgenden: RK) ist ottonischer Provenienz und wahrscheinlich eine niederrheinische Arbeit aus einer Werkstatt der zweiten Hälfte des 10. Jhs. Sie ist die wichtigste Reichsinsignie. Stil- und Materialvergleiche lassen auf eine Kölner oder eine Essener Werkstatt schließen (STAATS 1991), andere Hersteller können aufgrund der handwerklichen Einzigartigkeit aber nicht ausgeschlossen werden. Hier ist insbesondere das Benediktinerkloster auf der Reichenau zu nennen (WALTER 1978). Dort befand sich die Reichskanzlei sowie eine Malerschule bzw. eine Goldschmiedewerkstatt, welche technisch in der Lage gewesen wäre, ein Objekt wie die RK herzustellen. Für die kölnische Provenienz spricht hingegen wieder, dass der Kölner Erzbischof Brun, ein sehr einflussreicher Bruder Ottos I., als der Auftraggeber der RK gilt. Dieses spiegelt sich auch in der Programmatik sowie der kunsthandwerklichen Technik der Krone wieder. Die wichtigste Reichsinsignie wird zuerst bei Walther von der Vogelweide erwähnt, eine erste bildliche Darstellung findet sich erst im 13. Jh.
Die RK ist eine typische programmatische "Bildplattenkrone" nach byzantinischem Vorbild: Der Kronreif besteht aus acht Platten, welche nach oben hin jeweils halbkreisförmig abschließen. Man mag bei dieser Form an romanische Fensteröffnungen denken. Neben vier, von der Technik her byzantinisch beeinflussten Emailleplatten (Schmelzmalerei, Schwarzschmelz: Niello) mit drei AT-, sowie einer NT-Darstellung, besteht die RK noch aus vier weiteren "Steinplatten". Damit sind die reich mit Perlen und Edelsteinen besetzten Platten gemeint, welche mit den Bildplatten alternierend angeordnet sind. Auch die "Steinplatten" sind programmatisch. Von der Ikonographie sowohl der bildlichen Darstellungen als auch der Anordnung der Edelsteine wird zu sprechen sein, ist doch kein Element zufällig angeordnet worden. Als weitere Teile der RK sind das ebenfalls edelsteinbesetzte Stirnkreuz als Herrschafts- und Siegeszeichen sowie ein wohl durch Kaiser Konrad II. (reg. 1024-1039) hinzugefügter Kronenbügel zu nennen. Dieser überspannt den gesamten oktogonalen Kronenkörper und verbindet somit die vergrößerte Stirn- mit der Nackenplatte. Die Inschrift aus Perlen verweist auf den Auftraggeber des 11. Jhs sowie sein "römisches" Programm: "Chuonradus Dei Gratia Romanorum Augustus Imperator". Der Bügel erinnert von der Form her nicht zufällig an die Helmzier antiker Herrscher. Diese römische Komponente ergänzte die byzantischen Einflüsse der Ottonen ikonographisch.
Die RK ist heute Fragment: Halterungen an der Innenseite der Platten verweisen auf fehlende Pendilien, welche im Frühmittelalter bei Hofzeremonien vom Kronenkörper bis auf die Schultern des Trägers gereicht haben mögen. Außerdem fehlt der prominenteste Edelstein, der "Waise", vermutlich ein großer Opal, welcher an der Nackenplatte befestigt gewesen ist und schon seit dem 13. Jh fehlt. Er findet mehrfach Erwähnung in der höfischen Literatur. Hervorgehoben wird sein weißlich-rötliches changierendes Farbenspiel.
Der Durchmesser des Kronenkörpers beträgt 22cm, das Gewicht 3,5kg. Insgesamt weist die RK 144 Edelsteine auf, die Perlen nicht mitgezählt. Der Grundstoff der Krone ist Gold.

Heute spricht man von der "Wiener Krone", was auf ihren augenblicklichen Verwahrungsort verweist. Lange hieß sie aber die "Nürnberger Krone", weil sie jahrhundertelang (1424-1796) dort verwahrt worden war. Nürnberg hatte 1424 das Privileg "Hort des Reichsschatzes" verliehen bekommen. Dort wurden also neben den Reichsinsignien (auch "Reichskleinodien": Heilige Lanze, Reichsapfel, Zepter, Reichskreuz, Reichsschwert u.a.) auch die Reichsreliquien aufbewahrt. Im Früh- und Hochmittelalter hingegen, als die königliche und kaiserliche Herrschaft noch eine Reiseherrschaft war, war die RK mit den jeweiligen Herrschern auf Reisen. So wurde sie zeitweise auf Reichsburgen und in Klöstern aufbewahrt, wo es spezielle Räumlichkeiten dafür gab (Harzburg, Reichsabtei Hersfeld, Pfalz Ingelheim, Reichsveste Hammerstein, unter den Staufern im 12. Jh auf Burg Trifels, Hagenau/Els., Kyburg, Waldburg/Bodensee, München, Karlstein, ...).
Der kunsthistorische Zugang ist heutzutage der einzig verlässliche, auch wenn wir wenig über die Entstehungsumstände der RK wissen. In erster Linie wird die Krone gegenwärtig als ästhetisches Objekt wahrgenommen, weil uns andere Zugänge zu den historischen Funktionen größtenteils verbaut sind.



2. Die Reichskrone ist ein herrschaftliches Objekt.
Reichsgedanke - Reichsinsignien - Reichsgeschichte

Die RK ist ursprünglich das signum gloriae der ottonisch-salischen Zeit: Sie verkörpert vom Programm her das Gotteskaisertum des Heiligen Römischen Reiches, welches von 962 bis 1806 formal Bestand hatte und sich auf das Reich Karls des Großen berief, der Kirche und Papsttum unter den besonderen Schutz des Reiches stellte. Die Krone wurde allerdings erst unter Karl IV. im 14. Jh mit Karl d. Gr. in Verbindung gebracht.
In der Zeit vor dem Investiturstreit (etwa vor 1050) wird der RK eine andere Funktion zugekommen sein als in späteren Zeiten: Ein ungebrochenes innerkirchliches Verhältnis (das ost-westliche Schisma einmal außer Acht gelassen) sowie ein Identitätsanspruch zwischen Reich und Kirche werden den Reichsinsignien eine andere Funktion zugewiesen haben als Perioden der verschärften Dualität (Kaiser vs. Papst, Reformation, Aufklärung). Man kann eine Bedeutungsabnahme der RK für die herrschaftliche Funktion feststellen: Anfangs war sie identitätsstiftend, später nachgeordnetes Signum der Macht, dann, in der Zeit nach der Aufklärung, nur noch Zierrat, der fragwürdig, teilweise auch lächerlich gewirkt haben wird. Goethe, selbst Augenzeuge einer Kaiserkrönung in Frankfurt, beschreibt in "Dichtung und Wahrheit" rückblickend die Krönung Josephs II. (1764):
"Der junge König (...) schleppte sich in den ungeheuren Gewandstücken mit den Kleinodien Karls des Großen wie in einer Verkleidung einher, so dass er selbst, von Zeit zu Zeit seinen Vater ansehend, sich des Lächelns nicht enthalten konnte. Die Krone, welche man sehr hatte füttern müssen, stand wie ein übergreifendes Dach vom Kopf ab" (in: Dichtung und Wahrheit I, 5).
Heutzutage ist die RK zuvorderst ein historisches Objekt, seiner ursprünglichen Funktion beraubt, welches wir unter einer kunstästhetischer Perspektive wahrnehmen. Für heutiges Denken ist es also nicht mehr möglich, sich die tatsächliche Funktion und Bedeutung der RK vorzustellen, wie uns auch das Wesen des Reichsgedankens unverständlich erscheint: Für den frühmittelalterlichen Menschen galt das Heilige Römische Reich als Spiegelbild des Reich Gottes. Diesen Anspruch hatten auch die Herrscher. Das Reich war kein Nationalstaat im modernen Sinne, wie er sich noch im Hochmittelalter in den Nachbarländern herauszubilden begann. Wer von Deutschland und Italien als von den "verspäteten Nationen" sprach, beschreibt sicherlich etwas Richtiges. Der griffige Begriff unterschlägt aber, dass sich aufgrund der unterschiedlichen Funktion und des anderen, nämlich überweltlichen Anspruchs des Reichsgebildes die politische Entwicklung in eine andere Richtung gehen musste, gerade weil sie eben nicht nur profan-politisch ausgerichtet war. Reichspolitik war somit immer Kirchenpolitik. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Zusatz "... deutscher Nation" in der Reichsbezeichnung erst in der Frühneuzeit hinzu kam (erstmals 1442 nachw.), u.a. weil die Deutschen innerhalb der Reichsgrenzen die stärkste Bevölkerung bildeten. Der fränkischen "translatio imperii" von 800, als in Rom formal der römische Reichsgedanke auf die Franken überging, folgte dann gut 150 Jahre später, bei der Krönung Ottos des Großen, die Einbindung der Deutschsprachigen in den Reichsverband. Von einem "deutschen Staatsvolk" im engeren Sinne lässt sich aber nicht sprechen, auch der Begriff der "Nation" im Zusammenhang mit der Reichsbezeichnung im modernen politischen Sinne ist hier irreführend. Es kann also festgehalten werden, dass die Reichskrone Ausdruck eines überweltlichen Herrschaftsanspruches gewesen ist.

Dem universalen Reich fehlte die ideelle und geographische Mitte. Das rührt von der ehemaligen frühmittelalterlichen Reiseherrschaft her und hatte neben rechtlichen Gründen (der Kaiser als oberster Gerichtsherr musste überall präsent sein) auch pragmatische (Herrschaft durch Anwesenheit) sowie wirtschaftliche (die Pfalzen ernährten den durchreisenden Herrscher samt Hofstaat). So gibt es eine Vielzahl von alten deutschen "Hauptstädten", je nach Funktion und Zählung kommt man auf eine stattliche Zahl (Aachen, Frankfurt, Nürnberg, Prag, Regensburg, Wien...). Das bedeutet, dass dem Reich durch die Person des Kaisers zumindest eine personelle Mitte gegeben wurde. Die Reichsinsignien verliehen somit Kaiser und Reich Recht und Gewalt und legitimierten die Herrschaft: Wer über die Reichsinsignien verfügte hatte Herrschergewalt. Ein Entzug der Reichsinsignien ist somit gleichbedeutend mit einem Legitimitäts- und Machtentzug. Dies macht die "Entthronung" Heinrich IV. deutlich, als sich 1105 zu Ingelheim die Bischöfe "ein Herz fassten, auf den König eindrangen und ihm die Krone vom Haupte rissen..." (Helmold von Bosau). Noch 1316 konnte die Burgvögtin der habsburgischen Kyburg schreiben "do daz rich bi mir zu kyburc waz", als die Krone dort verwahrt wurde.

Den Reichsinsignien kam also eine Legitimationsfunktion zu: Durch das öffentliche Präsentieren der Reichsinsignien während der Krönungszeremonie wies sich der Herrscher als rechtmäßiger Kaiser aus. Dabei ist auffällig, dass viele der Reichsinsignien zweiseitig gestaltet sind: Das Reichskreuz weist auf der Rückseite eine bildliche Darstellung auf, die Nackenplatte der RK ist kongruent zur Stirnplatte gearbeitet, auch das Stirnkreuz ist rückwärtig mit einer Kreuzigungsszene gestaltet. Hieraus lässt sich die öffentliche Funktion der Insignien ableiten: Während der Kaiser während der Krönungszeremonie vor dem Altar kniete und das Reichskreuz bei einer Prozession vorangetragen wurde, ist es auch von der Rückseite her, also für die "Gemeinde" (höchste Repräsentanten von Staat und Kirche), sichtbar. Ein Herrscher muss die Insignien (öffentlich) vorweisen können, sonst ist er es nicht! Die Reichsinsignien verleihen ihrem Träger nicht nur Macht und Würde, sondern vor allem Identität. So ist es auch zu erklären, dass der "repräsentativste" Stein, der "Waise", an der Nackenplatte befestigt gewesen sein soll (STAATS 1991).



3. Die Reichskrone ist ein kultisches Objekt.
Christliches Symbol - christliche Programmatik - christliche Ikonographie

Vor dem Investiturstreit waren Kirche und Staat, Glaube und Politik, Sakrales und Weltliches ungeteilt. Deshalb sind viele religiöse Aspekte, der neuzeitlich-säkularen Trennung von Staat und Religion folgend, schon unter dem herrschaftlichen Aspekt genannt worden. Von der Funktion der RK als Reliquie muss noch gesprochen werden. Unbedingt zu erläutern bleibt die Funktion des "Waisen" sowie eine vertiefende Darstellung der christlichen Ansprüche in der Programmatik der RK: "Die Worte der Heiligen Schrift, direkt oder indirekt im Bild- und Edelsteinschmuck ausgedrückt, fügen sich zu einem geschlossenen Programm, das auch einer christologischen Formel des Frühmittelalters entspricht. Es ist die Lehre vom königlichen und priesterlichen, also vom zweifachen Amte Christi" (STAATS 1991: 69). Erst die Reformation gliederte das prophetische Amt aus dem königlichen aus. In der RK spiegelt sich natürlich die frühmittalterliche "rex et sacerdos"-Vorstellung: Christus ist der König der Könige. So sagen es die Bildplatten, vor allem die Christusplatte. Christus ist aber auch der sich selbst opfernde Hohepriester, wie man den Edelsteinplatten, insbesondere der Stirnplatte, entnehmen kann. Als Summe gilt: Christus ist ewiger König und ewiger Hohepriester im eschatologischen Sinne, darauf verweist auch das Oktogon des Kronreifes (vgl. ebd.). Diesen ewigen König-Priester repräsentiert schon in dieser Welt der gekrönte Kaiser, er ist also auch ein König und Priester. "Unter dieser Krone erinnert er all seine Gefolgschaft an die vom ewigen Priesterkönig Christus verheißene himmlische Zukunft des Gottesreiches, wie es die Johannesoffenbarung sagt, an "die große Stadt, das heilige Jerusalem, herniederfahrend aus dem Himmel von Gott, welche die Herrlichkeit Gottes hat" (Off 21, 10-11).
Mit dem "Kunstwerk" dieser Krone wollte man also Gottes Majestät verherrlichen, die kaiserliche Herrschaft religiös legitimieren, aber auch Kaiser und Gefolgschaft zur Einhaltung der christlichen Herrschertugenden ermahnen.
Eine weitere Funktion (s.u.) der RK sowie der anderen Reichinsignien, welche sich aus dem christlichen Reichsgedanken und somit dem in der Krone dargestellten Programm ableitet, ist die einer Reliquie. Seit der Zeit Karls IV. ist bekannt, dass die RK bei sogenannten "Heiltumsweisungen" öffentlich ausgestellt worden ist. Die Reichsinsignien waren, gemeinsam mit den eigentlichen Reichsreliquien, das Ziel von Massenwallfahrten. Die öffentliche Ausstellung hatte wiederum nicht nur einen religiösen Grund, sondern auch einen herrschaftlichen: Wenn ein Herrscher nicht nur von den höchsten Würdenträgern, sondern auch vom Volk anerkannt sein wollte, mussten die seine Herrschaft legitimierenden Insignien bekannt sein. Der Brauch der "Heiltumsweisungen" macht außerdem noch einmal den Identitätsanspruch von Kirche und Staat im Reichsgedanken und seinen Herrschaftssymbolen deutlich.
Die vier Bildplatten der Krone verweisen in recht deutlicher Form auf die geforderten Qualitäten des Herrschers und formulieren ein deutliches Herrscherideal, welches sich auf christliche Tugenden stützt: König Salomo (vorne rechts) steht für Gottesfurcht und Weisheit, König David (hinten rechts) für Gerechtigkeit, König Ezechias und der Prophet Jesaja versinnbildlichen ein langes Leben durch Gottvertrauen, was aber auch als memento mori gemeint sein kann.
Christus hingegen, vorne links abgebildet und von zwei Cherubimen flankiert, erhöht die kaiserliche Herrschaft mit dem salomonischen Spruch "per me reges regnant" zum Gottesgnadentum.
Die vier Edelsteinplatten entsprechen sich paarweise. Insbesondere die beiden Seitenplatten können als eine in Edelstein und Perlen gefasste versinnbildlichte ottonische Missionstheologie aufgefasst werden. STAATS (1991:62f) weist darauf hin, dass sie für die Thronanbetung der 24 Ältesten der Johannesoffenbarung (Off 4 und 22) stehen: Dort wird eine große Gottesvision beschrieben, bei der die Farben der Edelsteine eine große Rolle spielen ("...wie ein Regenbogen, (...) anzusehen wie ein Smaragd"). Um den Thron lagern vier Tiere (Engel, Löwe, Stier, Adler), welche auf die Evangelisten verweisen und "vor dem Thron lodern im Kreise die sieben Fackeln mit Feuer, welche sind die sieben Geister Gottes". Weiter um den Thron breitet sich das gläserne Meer und um den Thron herum stehen die 24 Stühle der Ältesten, die Gott ewig lobpreisen. Sechs Verse deuten somit den größten Teil des Edelsteinschmuckes der RK. Auf die einzelnen Steinsorten übertragen bedeutet dies (vgl. FRIESS 1980) in der frühmittelalterlichen Ikonographie: Smaragd=Thron, vier Rubine=vier Tiere, sieben Rubine=sieben Fackeln, zehn Saphire=gläsernes Meer, vierundzwanzig Rubine=vierundzwanzig Älteste. Auch die Bedeutung der Perlen lässt sich mit der Johannesoffenbarung erklären (Off 22,2 Entsprechung zu Kap. 4): Hier wird das Bild vom "Strom des Wassers des Lebens" sowie des "Holz des Lebens" aufgenommen. Dieses Holz trägt "zwölf Mal Früchte und brachte seine Früchte alle Monate und die Blätter des Holzes dienten zur Genesung der Heiden." Die dem Thronsmaragd nahe angebrachten fruchtartigen Perlen und die vom Thron wegstrebenden Perlenreihen könnten somit auf die Heidenmission Ottos des Großen hinweisen. Das 10. Jh war die große Zeit der imperialen Machtentfaltung. STAATS 1991:65: Unter den Ottonen wurden erstmals die Gebiete nördlich und östlich der Elbe missioniert. Die Dänen, Polen, Ungarn und Böhmen traten zur europäischen Völkerfamilie. Es begann die Geschichte des christlichen Europa unter Einschluss gerade auch Osteuropas. Nach Ottos Sieg über die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld 955 war zunächst mit der Errichtung einer ottonischen Ostmark neues Land für das Christentum erschlossen, das seit 976 unter den Babenberger Markgrafen als "Österreich" eine feste Stellung im Reichsgefüge bekam. Unter Ottos Regentschaft fällt auch die Einrichtung der Bistümer von Ripen, Aarhus, Schleswig, Havelberg, Brandenburg, Meißen, Merseburg und Zeitz sowie die Erhöhung Magdeburgs zum Erzbistum und missionarischen "Tor zum Osten". Oldenburg i.H. wurde zum wichtigen Missionszentrum für Nordelbien, insbesondere des slawisch-heidnischen Wagriens. Es gab Pläne zur Ausweitung der Missionspolitik bis nach Russland, allerdings kam die byzantinische Mission dem zuvor. Die beiden seitlichen Edelsteinplatten stehen also ausdrücklich für die ottonische Missionstheologie.
Die ebenfalls kongruenten Stirn- und Nackenplatten erinnern an das 2. Buch Mose, 28: Es werden die zwölf Edelsteine auf den Brustschilden der alttestamentarischen Hohepriester (Choschen) dargestellt, aber wohl auch die zwölf Grundsteine der Mauern des himmlischen Jerusalems (Off 21, 10-20). Im Buch Mose werden die hohepriesterlichen Gewandtteile genau beschrieben: "Und du sollst sie besetzen mit vier Reihen von Steinen. Die erste Reihe soll sein ein Sarder, ein Topas und ein Smaragd, die anderen ein Rubin." Und "zwölf sollen es sein (...) nach den Namen der Söhne Israels, dass auf jedem ein Name stehe nach den zwölf Stämmen" (2. Mose, 28, 17, 21).
Der prominenteste Edelstein des Mittelalters war der "Waise". Er war so bekannt und muss eine außergewöhnliche Ausstrahlung gehabt haben, dass er sogar als pars-pro-toto in der Literatur erwähnt wird: In diesem Edelstein sah man einen geheimen Sinn, er hat in den Augen der Zeitgenossen den Charakter des Mysteriums, des Sakramentalen innegehabt. In der Symbolik der RK ist ein sakramentaler Charakter unübersehbar. Im engeren Sinne handelt es sich bei der RK nicht um eine Reliquie wie der Heiligen Lanze, aber sie wurde doch verwahrt, präsentiert und später auch verehrt wie eine Reliquie. Die Reichsinsignien wurden auf den Burgen von Priestern bewacht, die Schatzkammern enthielten offene Kapellen, so dass sie Teil des Gottesdienstes waren. Der "Waise" ist etwa um 1350 verloren gegangen. Noch Albertus Magnus hatte den Stein folgendermaßen beschrieben:
"Der Orphanus (gr.: "Der Waise") ist ein Stein in der Krone des römischen Kaisers, seinesgleichen findet sich sonst nirgendwo, weshalb er auch Orphanus heißt. Er ist aber in der Farbe wie Wein, freilich von zarter Weinfarbigkeit. Das heißt: Es ist so, als ob sich die strahlende und blitzende Weiße des Schnees in klares Weinrot verwandelt und davon überdeckt wird."
Die Sinngebung dieser Farbkombination verweist auf Christus, zumindest legt dies die Edelsteinsymbolik der Johannesoffenbarung nahe: Da heißt es vom himmlischen Jerusalem, dass es "...glänzte wie der alleredelste Stein, wie ein kristallklarer Jaspis... Die Mauer war aus Jaspis und die Stadt aus reinem Gold klar wie Glas. Und die Grundsteine der Mauer um die Stadt waren mit allen Arten von Edelsteinen geschmückt. Der erste Grundstein war ein Jaspis" (Off 21; 11, 18-19).

Abschließend sollte noch darauf hingewiesen werden, dass keine Krone, nicht die russische, nicht die englische oder spanische jemals solch eine Wirkung und Selbstmächtigkeit bzw. Symbolkraft entfaltet haben wie die Reichskrone. Dies ist nicht nur mit ihrer rechtlichen, sondern auch kultischen Bedeutung zu erklären und nicht zuletzt mit ihrer langen historischen Kontinuität an Bedeutung. Die RK kann also als ästhetische und rechtliche Ausprägung eines theologisch begründeten überweltlichen Herrschaftsanspruches gelten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Reichskrone ein europäisch-ökumenisches Symbol eines universalen Reiches gewesen ist, dem wir uns heutzutage aber nur noch kunstästhetisch nähern können.



Literatur

FRIESS, G. 1980: Edelsteine im Mittelalter. Wandel und Kontinuität in ihrer Bedeutung durch zwölf Jahrhunderte (in Aberglauben, Medizin, Theologie, und Goldschmiedekunst). Hildesheim.

STAATS, R. 1991: Die Reichskrone. Geschichte und Bedeutung eines europäischen Symbols. Göttingen.

WALTER, A. J. 1978: Die Wiener Schatzkammer. Stuttgart.



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