Richard Rorty -
eine Einführung

132. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 08.12.01 von Stefan Nehrkorn


Richard Rorty: "Das Wesen der Zahl 17"

Richard Rorty: "Die liberale Ironikerin"


Hoffnung statt Erkenntnis: Solidarität statt Objektivität

Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Richard Rorty schreibt zu seinem akademischen Weg: "(Ich bin) sehr froh darüber, alle diese Jahre mit der Lektüre philosophischer Bücher zugebracht zu haben. Denn dabei habe ich etwas gelernt, was offenbar immer noch äußerst wichtig ist: Misstrauen gegenüber dem geistigen Snobismus, der mich anfangs zu dieser Lektüre bewogen hat."
(Philosophie und Zukunft S. 159)

Rorty hofft auf die "Gemeinschaft liberaler Ironikerinnen", deren letztes Anliegen nicht Wahrheit, sondern die "Vermeidung von Grausamkeit" ist. Der Roman "Onkel Toms Hütte" hat mehr für die Verbreitung der Menschenrechte getan als der Kategorische Imperativ! "Die Philosophie sollte den Versuch aufgeben, für beruhigende Gewißheit zu sorgen" (Hoffnung statt Erkenntnis, S.24). In diesen Sätzen ist nahezu Rortys gesamter Denk- und Lebensweg -vom Philosophieprofessor in Princeton zum Professor für vergleichende Literaturwissenschaft in Stanford- enthalten. Die Einführung skizziert diesen Zusammenklang.

Richard Rorty ist ein Vertreter des Pragmatismus' und einer der radikalsten antimetaphysischen Denker unserer Zeit. Pragmatismus steht generell für einen Vorrang von Praxis vor rein theoretischen Überlegungen. Allen pragmatischen Ansätzen gemeinsame ist der Versuch einer Absage an die Metaphysik, einer Vermittlung von Theorie und Praxis, Erkenntnis und Interesse. Das heißt, daß schon die Theorie, das Bilden von Begriffen und Gedanken, eine Art Praxis ist.
Wenn man Pragmatismus nach dem üblichen Sprachgebrauch als Synonym für "Praktikalismus" oder "Tagwurstelei" im negativen Sinn versteht oder für "ideologiefreien Aktivismus" im positiven Sinn, wird man in ihm die Abwehr jeder philosophischen Reflexion sehen oder die entsprechende Philosophie einer eindimensionalen Zweck-Mittel-Beziehung nicht als Philosophie akzeptieren.

Der Pragmatismus Rortys postuliert eine Lösung (besser: Auflösung) des Problems von "Theorie und Praxis". Sein Vorschlag läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Es gibt keinen praktischen Unterschied, der sich nicht sprachlich fassen läßt. Kurz: Alle Sprache ist Praxis (Linguistic Turn, 1967). Rorty: "Sprache hat die Macht, neue und andere Dinge möglich und wichtig zu machen" (Kontingenz, Ironie und Solidarität, S.147).

"Der hermeneutische Standpunkt, für den die Aneignung von Wahrheiten an Bedeutung verliert und als Bestandteil des Bildungsprozesses aufgefasst wird, ist nur einnehmbar, wenn man zuvor einmal einen anderen Standpunkt eingenommen hat" (Spiegel der Natur S. 396).
"...niemand würde sein Leben einem Feldzug gegen die Metaphysik widmen, der nicht irgendwann einmal von Platon und Kant fasziniert gewesen wäre" (Philosophie und Zukunft S. 167).

Aufklärungsutopien steht Rorty skeptisch gegenüber. Er hofft auf eine Steigerung der Empfindungsfähigkeit von Menschen für andere Menschen. Die Sensibilität wird durch Literatur (Romane, Ethnographie, Zeitungsberichte, Comic-Hefte, Filme, Dokumentarstücke) gestärkt. Die Empfindungsfähigkeit erlaubt es, im Anderen Ähnlichkeiten zu sich selbst zu entdecken. Das Bild des Menschen als "Besitzer der Vernunft" möchte er ersetzt sehen durch das Bild toleranter, schöpferischer Wesen einer zum Mitleid fähigen Gattung, die Bürger eines demokratischen Staates sein können.


Der "ironischen Genese" von Rortys Thesen kann der Leser am Ende dieser Einführung mit Hilfe längerer Zitate nachspüren.

"Das Wesen der Zahl 17"

"Die liberale Ironikerin"

Rortys Weg -vom systematischen Philosophen zum bildenden Philosophen- wird in der nachstehenden Gegenüberstellung (Spiegel der Natur. S. 396 ff.) zusammengefaßt:

Systematische Philosophen sind konstruktiv und liefern Argumente.
Bildende Philosophen reagieren, schreiben Satiren, Parodien und Aphorismen.

Systematische Philosophen bauen für die Ewigkeit.
Bildende Philosophen zertrümmern um ihrer eigenen Generation willen.

Systematische Philosophen gehen den sicheren Pfad der Wissenschaft.
Bildende Philosophen erhalten das Staunen über noch unzureichend beschriebenes.

Systematische Philosophen suchen nach bleibender Wahrheit.
Bildende Philosophen versuchen "Zeit in Gedanken zu fassen" (Hegel)

Systematische Philosophen sind Letztbegründer.
Bildende Philosophen sind Zeitgenossen.

"Ich (Rorty) möchte eine Gegenüberstellung vornehmen zwischen der Vorliebe der asketischen Priester für Theorie, Einfachheit, Strukturelles, Abstraktion und Wesentliches einerseits und der Vorliebe der Romanschriftsteller für Erzählerisches, Detailliertes (...andererseits. Kundera schreibt in "Kunst des Romans"): Die Weisheit des Romans unterscheidet sich von der Weisheit der Philosophie. Der Roman ist nicht aus dem theoretischen Geist, sondern aus dem Geiste des Humors geboren. Europa hat versagt, indem es die europäischste aller Künste, den Roman, nie verstanden hat, weder seinen Geist noch seine gewaltigen Erkenntnisse und Entdeckungen noch die Autonomie seiner Geschichte. Die vom Lachen Gottes inspirierte Kunst ist ihrem Wesen nach unabhängig von ideologischen Gewißheiten, ja ist sogar deren Widerpart. Wie Penelope trennt sie nachts das Gewebe wieder auf, das Theologen, Philosophen und Gelehrte tags zuvor geflochten haben." (Eine Kultur ohne Zentrum, S.85f)


Vernunft ist für Rorty kein Vermögen des Einzelnen sondern das "Bevorzugen der Rede statt der Gewaltanwendung". Vernunft ist ein Werkzeug der Überredung, um Gewünschtes zu erreichen. Alle Gewißheiten sind Produkte von Zeit und Zufall, Produkte eines Gesprächs, das einmal nichts von unseren heutigen Fragen wußte und vielleicht einmal nichts mehr von ihnen weiß. Sein Pragmatismus kennt keinen spezifischen Unterschied zwischen Überreden und Überzeugen. Überzeugen und Überreden sind graduelle Situationen im anhaltenden Gespräch, das keine zeitlose Wahrheit kennt. Rorty begreift sich als Ingenieur des Gesprächs. Die im abendländischen Wortpaar "Schema/Inhalt" steckende Hoffnung auf Erkenntnis sieht der Pragmatiker Rorty im Wortpaar "unnützlich/nützlich" emanzipatorisch brauchbarer aufgehoben. Wahrheit beschreibt Rorty als das, was zu glauben für uns gut ist.


Der Vorrang von Toleranz und Demokratie vor zeitloser Wahrheit findet sich in einem Ausspruch von Thomas Jefferson pragmatisch zugespitzt: "Ob mein Nachbar an einen oder zehn Götter glaubt, raubt mir kein Geld und bricht mir kein Bein." Für Rorty ist das Zerbrechen des starken religiösen Konsens' (Säkularisierung) ein empirischer Beleg dafür, das Gesellschaften solche Ereignisse überdauern. Er hofft in Parallelität dazu auf eine Pragmatisierung anderer Wahrheitsansprüche. Das "Privatisieren der Letzbegründung" ist eine Metapher für Rortys These, daß das "Öffentliche" mit dem "Privaten" unvereinbar aber dennoch gleichwertig ist. Die Unvereinbarkeit ist für ihn ein angemessener Preis für das demokratische Zusammenleben:


In "Kontingenz, Ironie und Solidarität" schreibt Rorty: "Dieses Buch versucht zu zeigen, wie es aussieht, wenn wir die Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint, aufgeben und uns damit abfinden, die Forderungen nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten. Es zeichnet eine Gestalt, die ich (Rorty) "liberale Ironikerin" nenne. (...) "Liberale" (sind) die Menschen, die meinen, daß Grausamkeit das schlimmste ist, was wir tun. (...) "Ironikerin" nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, daß ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind. "Liberale Ironiker" sind Menschen, die zu diesen nicht auf tiefste Gründe rückführbaren Bedürfnissen auch ihre eigenen Hoffnungen rechnen, die Hoffnungen, daß Leiden geringer wird, daß die Demütigung von Menschen durch Menschen vielleicht aufhört."
(Kontingenz, Ironie und Solidarität, S.14f)

Rorty fragt, was es heißt, wenn unsere Werte kontingent (grundlos, unverfügbar, zufällig, raum-zeitlich) sind. Kontingenz ist nichts abwertendes. "Kontingenz" entwertet nicht, sondern zeigt lediglich, wie unvermeidbar jedes theoretische Bemühen um Wahrheit mit der zeitgenössischen Praxis verwoben ist:


"Worüber haben unsere Vorfahren gesprochen? War Aristoteles mit seiner Einteilung der Bewegung in eine natürliche und eine gewaltsame im Irrtum? Oder sprach er über etwas anderes als wir, wenn wir über die Bewegung sprechen? Gab Newton richtige Antworten auf Fragen, die Aristoteles falsch beantwortet hatte? Wir erwarten (...) deshalb hierauf endgültige Antworten, weil wir der Meinung sind, die Geschichte der Wahrheitssuche solle sich eigentlich von der Geschichte der Dichtung, der Politik oder der Mode unterscheiden. (...) Warum kann ihre Beantwortung nicht einfach davon abhängig sein, welche heuristischen Annahmen einem bestimmten historiographischen Zweck dienlich sind?" (Der Spiegel der Natur, S.293)


Rorty sieht im konkreten Leid eine "schwache Form des Universalismus". Würde dies nicht gelten, müßte man sagen: Menschen leiden "kulturbedingt" verschieden. Der Dreiklang von Kontingenz, Ironie und Solidarität macht Rorty zu einem scharfen Kritiker sogenannter "kultureller Unterschiede". Die Betonung dieser Differenzen ist für ihn ein "Deckmantel für konkretes Leid". Ein Beispiel beleuchtet diese Sicht:


Die Sklavenhaltung in den amerikanischen Südstaaten wurde von den Nordstaaten lange Zeit akzeptiert, weil der Norden meinte, die "Kultur des Südens" unterscheide sich von der eigenen. Erst der Blick auf das konkrete Leid führte zu einer anderen Einschätzung. Abraham Lincoln sagte in einem Gespräch mit Harriet Beecher-Stowe, daß die massenhafte Lektüre ihres Romans "Onkel Toms Hütte" der eigentliche Auslöser für den Bürgerkrieg gewesen sei: "Sie sind also die kleine Frau, die diesen großen Krieg verursacht hat". Die genaue literarische Beschreibung der Lebensumstände von schwarzen Sklaven machte es zunehmend unmöglich, die "kulturellen Unterschiede" gelten zu lassen.

Die Ausweitung der Solidarität durch Mitgefühl für immer größere Gruppen ist eine kontingente (grundlose, unverfügbare, zufällige) Hoffnung: philosophisch unbegründbar, aber wünschenswert. Rorty möchte mit seiner "ironischen Kehre" die Philosophie nicht mehr zu leicht in den Verdacht geraten lassen, sie könne "von uns unabhängige Wahrheit" finden.

Stefan Nehrkorn



Externe links:

Richard Rorty/Stanford(EXTERN)

Pragmatism/Stanford(EXTERN)



Zitate aus Rortys Büchern:


Rortys introspektive Kritik an der "philosophischen Suche nach absoluter Wahrheit" wird im folgenden Beispiel deutlich. Die Frage nach dem "Wesen einer Sache" parallelisiert er mit der Frage nach dem "Wesen der Zahl 17":


Rorty: "Das Wesen der Zahl 17"
(Hoffnung statt Erkenntnis - eine Einführung in die pragmatische Philosophie S.45f)


"Um einzusehen, worauf ich (Rorty) hinaus will, möge man sich fragen, welches das Wesen der Zahl 17 ist: Was ist sie an sich und unabhängig von ihren Beziehungen zu anderen Zahlen? Diese Frage verlangt eine Beschreibung der 17, die anders ist als die folgenden Beschreibungen: kleiner als 22, größer als 8, die Summe von 6 und 11, die Quadratwurzel aus 289, das Quadrat von 4,123105, die Differenz von 1.678.922 und 1.678.905. Das Unliebsame an allen Beschreibungen dieser Art ist, daß anscheinend keine von ihnen der Zahl 17 näher kommt als eine der übrigen. Nicht minder unliebsam ist, daß es offensichtlich unendlich viele sonstige Beschreibungen der 17 gibt, die alle ebenso ausfallen würden. Wie es scheint, gibt keine dieser Beschreibungen einen Hinweis auf das Wesen der Siebzehn. Das Wesen wäre jenes einzigartige Merkmal, wodurch sie zu eben der Zahl wird, die sie nun einmal ist. Aber welche Beschreibung angewandt wird, hängt ganz offenbar von dem Zweck ab, der einem jeweils vorschwebt, also von der spezifischen Situation, durch die man überhaupt erst darauf gekommen ist, sich mit der Zahl 17 zu befassen.

Wollen wir uns zum Wesen der Zahl 17 erklären, müssen wir im philosophischen Fachjargon sagen, daß alle ihre unendlich vielen verschiedenen Beziehungen zu unendlich vielen anderen Zahlen interne Beziehungen sind, d. h. Beziehungen, von denen keine einzige anders sein könnte, ohne daß sich etwas an der Zahl 17 ändern würde. Die Mathematiker sind tatsächlich imstande, einen solchen Mechanismus herzustellen, indem sie die Arithmetik axiomatisieren oder die Zahlen auf Mengen zurückführen und die Mengenlehre axiomatisieren. Aber wenn der Mathematiker dann auf seine hübsche kleine Axiomenschar zeigt und sagt: "Sieh da, das Wesen der Siebzehn!", so fühlen wir uns düpiert. An diesen Axiomen ist nichts sonderlich Siebzehnhaftiges, denn sie bilden im gleichen Maße auch das Wesen von 1, 2, 289 und 1.678.922. (...) Nach unserem Vorschlag sollte man alle Gegenstände so auffassen, als ähnelten sie den Zahlen in der Hinsicht, daß es nichts über sie zu wissen gibt außer einem unendlich umfassenden und stets erweiterbaren Netz von Beziehungen zu anderen Gegenständen."

(Hoffnung statt Erkenntnis - eine Einführung in die pragmatische Philosophie S.45f)


Rorty: "Die liberale Ironikerin"
(Kontingenz, Ironie und Solidarität S.14ff)


"Dieses Buch versucht zu zeigen, wie es aussieht, wenn wir die Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint, aufgeben und uns damit abfinden, die Forderungen nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten. Es zeichnet eine Gestalt, die ich "liberale Ironikerin" nenne. Meine Definition des "Liberalen" übernehme ich von Judith Shklar, die sagt: Liberale seien die Menschen, die meinen, daß Grausamkeit das schlimmste ist, was wir tun.

"Ironikerin" nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, daß ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind. "Ironikerin" nenne ich jemanden, der so nominalistisch und historistisch ist, daß er die Vorstellung aufgegeben hat, seine zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse bezögen sich zurück auf eine Instanz jenseits des raum-zeitlichen Bereiches. Liberale Ironiker sind Menschen, die zu diesen nicht auf tiefste Gründe rückführbaren Bedürfnissen auch ihre eigenen Hoffnungen rechnen, die Hoffnungen, daß Leiden geringer wird, daß die Demütigung von Menschen durch Menschen vielleicht aufhört.

Liberale Ironiker sehen keine Antwort auf die Frage: "Warum nicht grausam sein?", keine nicht-zirkuläre theoretische Begründung für die Überzeugung, daß Grausamkeit schrecklich ist; auch keine Entgegnung auf die Überzeugung, daß Grausamkeit schrecklich ist; auch keine Antwort auf die Frage: "Wie entscheidet man, wann man gegen Ungerechtigkeit kämpfen und wann man private Selbsterschaffungspläne verfolgen soll ?" (...) Wer glaubt, es gäbe wohlbegründete theoretische Antworten auf Fragen dieses Typs - Algorithmen zur Lösung moralischer Dilemmata dieser Art -, ist im Herzen immer noch Theologe oder Metaphysiker. Er glaubt an eine Ordnung jenseits von Zeit und Veränderung, die festsetzt, worauf es im Leben ankommt, und eine Hierarchie der Verpflichtungen einrichtet.

Die ironistischen Intellektuellen, die nicht an eine solche Ordnung glauben, sind (sogar in den glücklichen, reichen, gebildeten Demokratien) eine kleine Minderheit im Vergleich zu den Menschen, die glauben, eine solche Ordnung müsse es geben. (...) Deshalb hat Ironismus oft den Anschein erweckt, als sei er dem Wesen nach nicht nur der Demokratie, sondern auch der Solidarität feind - einer Solidarität mit der Masse der Menschheit (...), die überzeugt (ist), daß eine solche Ordnung bestehen muß. Aber der Ironismus hat diese feindselige Einstellung nicht. Feindseligkeit gegenüber einer bestimmten, historisch bedingten und womöglich vorübergehenden Form von Solidarität heißt nicht Feindseligkeit gegenüber der Solidarität als solcher. Eine Absicht meines Buches ist es, die Möglichkeit einer liberalen Utopie vorzustellen: einer Utopie, in der Ironismus in dem Sinn, auf den es hier ankommt, universell ist. Eine post-metaphysische Kultur scheint mir nicht unmöglicher als eine post-religiöse und genauso wünschenswert.

In meiner Utopie würde man Solidarität nicht als ein Faktum verstehen, das erst durch das Ausräumen von "Vorurteilen" oder durch den Vorstoß in vorher verborgene Tiefen erkennbar wird, sondern auf ein anzustrebendes Ziel. Es ist nicht durch Untersuchung, sondern durch Einbildungskraft erreichbar, durch die Fähigkeit, fremde Menschen als Leidensgenossen zu sehen. Solidarität wird nicht entdeckt, sondern geschaffen. Sie wird dadurch geschaffen, daß wir unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes und der Demütigung anderer, uns nicht vertrauter Menschen steigern. Diese gesteigerte Sensibilität macht es schwieriger, Menschen, die von uns verschieden sind, an den Rand unseres Bewußtseins zu drängen, indem wir denken: "Sie empfinden nicht so wie wir", oder: "Leiden muß es immer geben, warum sollen nicht sie leiden?" Der Prozeß, in dessen Verlauf wir allmählich andere Menschen als "einen von uns" sehen statt als "jene", hängt ab von der Genauigkeit, mit der beschrieben wird, wie fremde Menschen sind, und neubeschrieben, wie wir sind. Das ist eine Aufgabe nicht für Theorie, sondern für Sparten wie Ethnographie, Zeitungsberichte, Comic-Hefte, Dokumentarstücke und vor allem Romane. Bücher wie die von Dickens (...) Henry James oder Nabokov zum Beispiel zeigen uns im Detail die Art von Grausamkeit, deren wir selbst fähig sind, und bringen uns auf diese Weise dazu, uns selbst neuzubeschreiben. Das ist der Grund, warum Roman, Kino und Fernsehen langsam aber sicher Predigt und Abhandlung in der Rolle der Hauptvehikel moralischer Veränderungen und Fortschritte abgelöst haben.

In meiner liberalen Utopie würde diese Ablösung die Anerkennung erfahren, die ihr jetzt noch fehlt. Die Anerkennung wäre Teil einer allgemeinen Wendung gegen die Theorie und zur Erzählung. Eine solche Wendung wäre das Zeichen dafür, daß wir den Versuch aufgegeben haben, alle Seiten unseres Lebens in einer einzigen Vision zusammenzusehen, sie mit einem einzigen Vokabular zu beschreiben. Sie würde darauf hinauslaufen, daß wir akzeptieren, was ich im ersten Kapitel die "Kontingenz der Sprache" genannt habe - die Tatsache, daß wir keine Möglichkeit haben, uns außerhalb der diversen Vokabulare in unserem Gebrauch zu stellen und ein Metavokabular zu finden, das irgendwie alle möglichen Vokabulare, alle möglichen Weisen des Denkens und Urteilens erfaßt. Eine historistische, nominalistische Kultur, wie ich sie mir vorstelle, würde sich statt dessen auf Erzählungen einstellen, die unsere Gegenwart einerseits mit Vergangenheit, andererseits mit zukünftigen Utopien verbinden. Mehr noch: sie würde die Verwirklichung von Utopien und die Vorstellung noch fernerer Utopien als einen unendlichen Prozeß auffassen - als unendliche, immer weiter ausgreifende Verwirklichung von Freiheit, nicht als Konvergieren gegen eine schon existierende Wahrheit." (Kontingenz, Ironie und Solidarität S.14ff)





In deutscher Übersetzung sind von Richard Rorty u.a. erschienen:


Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt 1981

Solidarität oder Objektivität? Stuttgart 1988

Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt 1989

Eine Kultur ohne Zentrum. Stuttgart 1993

Hoffnung statt Erkenntnis. Wien 1994

Stolz auf unser Land. (Amerika - ein unvollendetes Projekt) Frankfurt 1999

Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen. Frankfurt 2000

Wahrheit und Fortschritt. Frankfurt 2000

Philosophie und Zukunft. Frankfurt 2000


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