Kleine Geschichten zur Sexualgeschichte

22. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 15.05.1996 von Viktor Hartmann



Die große Bedeutung der Sexualität für den einzelnen Menschen ist weitgehend erkannt. Die "Geschichte" der Sexualität in Staat und Gesellschaft und die darin beschlossene Probleme und Folgen für die Politik werden noch weiter verkannt.

A La Tahiti

Das Jahr 1771 markiert das wichtiges Datum in Hinblick auf die Genealogie modernen Sexualverhaltens.
Louis Antonio Bouganville legt seine Bericht über eine Weltreise vor, die ihn auch nach Tahiti führte. Die Menschen dort lebten in einer sexuellen Freiheit, keine Moralvorschriften engten sie ein, keine Gewissensbisse bedrückten sie. Auch der Kaplan der Schiffsbesatzung wurde davon überwältigt. Sein tahitianischer Gastgeber Oro führt ihm Weib und drei Töchter nackt zu und sagt: "Du hast gegessen, du bist jung, du fühlst dich wohl. Wenn du allein schläfst, wirst du schlecht schlafen. Hier ist mein Weib, dort sind meine Töchter. Wähle diejenige, die dir gefällt. Doch wenn du mir ein Gefallen erweisen willst, dann gib der jüngsten Tochter den Vorzug, weil sie noch keine Kinder hat." So verbringt der "gute Kaplan" seine Nächte, wobei sein schlechtes Gewissen ihn verschiedene Male: "Aber meine Religion, aber mein Stand?" rufen läßt. Das Idyll ist aber keineswegs zweckfrei. Der "gute Kaplan" ist Objekt eines Willens. Die Eingeborene sagen:

"Ihr kommt zu uns, wir überlassen euch unsere Frauen und Töchter, ihr wundert euch darüber; ihr zeigt euch dankbar dafür; dies bringt uns zum Lachen... Unsere Frauen kamen zu dir und entzogen deinen Adern Blut. Wenn du fortgehst, wirst du uns Kinder hinterlassen... Wir haben sehr viel Brachland, uns fehlen Fäuste und Arme. Wir müssen Verluste gutmachen, wie sie durch Seuchen entstehen, und haben dich benutzt, um die Leere auszufüllen."

In der "alten Welt" hat man zu dieser Zeit diesen Pragmatismus kaum begriffen. Die Freizügigkeit alleine wurde von den einen verdammt und von den anderen geneidet. So ist die Betrachtung dieses Sexualparadies bei Diderot im Vergleich zu Europa mit einem Kulturpessimismus verknüpft:
"Statt, wie Tahitianer, die Schönheit der Sinne als etwas Gutes zu empfinden und sich dem Drange der Natur hingeben, habe die Kultur dazu geführt, daß die Menschen durch imaginäre Tugenden in ihrer freien Entwicklung gehemmt - dem Bösen verfielen. Seine Stimme dazu gab auch der Marquis de Sade, der in seinen Romanen die These vom guten Menschen ad absurdum führen wollte."

Der Jungfrauenglaube

Der Kult der Jungfräulichkeit, der "virgo intacta", ist das Kernstück der bürgerlichen Sexualfassung des 19. Jahrhunderts. Diese Ideologie will nichts davon wissen, daß zu jedem gefallenen Mädchen auch ein gefallener Mann gehört.
Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist zu sehen, wie die Rolle eines jungfräulichen Mädchens in Kunst vom Erotisch-Pikanten (Gretchen in "Faust") ins National-Aggressive wechselt: Reinheit ist die deutsche Kerntugend, Buhlerei und Wollust französische Laster. Die Argumentationsfigur des Jungfrauenglaubens wird häufig verwendet.

In diesem Sinne hat Ernst Moritz Arndt seinen Franzosenhaß mit dem Jungfrauenglauben gekoppelt, und den Franzosen den Anschlag auf die deutsche weibliche Tugend untergeschoben: "In alle Kreise und Bezirke der deutschen Zunge ergingen Befehle, Listen einzuschicken über die mannbaren deutschen Jungfrauen, welche durch Vermögen, Schönheit und Anmut glänzten. Diese sollten nach Frankreich abgeführt und an Franzosen vergeben werden. Hätte dies ausgeführt werden können, wie bald wäre diesseits des Rheins die edle deutsche Art verbastardet worden."
Etwa hundert Jahre später spricht Hitler in "Mein Kampf" in ähnlicher Weise -dem Jungfrauenglauben verhaftet- von den Juden, die als "schwarze Völker" und "Parasiten" "unsere unerfahrenen, jungen, blonden Mädchen schändeten und dadurch etwas zerstören, was auf dieser Welt nicht mehr ersetzen werden kann."
Auch Friedrich Engels forderte die Durchbrechung der Jungfrauen-Ideologie. Die Frau, die ihre Jungfräulichkeit in die Ehe einzubringen hat, verliert ihren Wert an den Zerstörer und damit Besitzer von dieser. (F. Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates) Da sahen die Antikommunisten gleich eine Möglichkeit für die Entwicklung einer These: die Kommunisten möchten die "bürgerliche Familie" zerstören.

Rationalisierung des Geschlechtslebens in der Ehe

Bereits seit Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatten die Eheschließungen ab- und die Scheidungsraten zugenommen. Auch die Geburten waren seit dieser Zeit kontinuierlich zurückgegangen. Die auf Reproduktion und damit auf eine Einheit von Sexualität und Fortpflanzung ausgerichtete alte Sexualmoral hatte der Förderung der Schwangerschaftsverhütung weichen müssen. Staatliche Einmischung ist oftmals zu beobachten. Erich Kästner hat sehr treffend diese Sachlage anno 1930 in seinem Gedicht "Patriotisches Bettgespräch" beschrieben:

Hast du, was in der Zeitung stand, gelesen?
Der Landtag ist mal wieder sehr empört
von wegen dem Geburtenschwund gewesen.
Auch ein Minister fand es unerhört.

Auf tausend Deutsche kämen wohl pro Jahr
gerade 19 Komma 04 Kinder.
04! Und so was hält der Mann für wahr!
Daß das nicht stimmen kann, sieht doch ein Blinder.

Geburtenrückgang hat er noch gesagt,
sei, die Geschichte lehrt es, Deutschlands Ende,
und deine Fehlgeburt hat er beklagt.
Und das er, daß man abtreibt, gräßlich fände.

Jawohl, wir sollen Kinder fabrizieren.
Fürs Militär. Und für die Industrie.
Zum Löhnesenken. Und zum Kriegverlieren!
Sieh dich doch vor. Ach so, das war dein Knie.

Na, komm mein Schatz. Wir wollen ihm eins husten
Dein Busen ist doch wirklich noch famos.
Ob unsere Eltern, was wir wissen, wußten...
Wer nicht zur Welt kommt, wird nicht arbeitslos.

Der Kinderreichtum ist kein Kindersegen.
Deck uns schön zu. Ich bild mir ein, es zieht.
Komm, laß uns den Geburtenrückgang pflegen!
Und lösch die Lampe aus. Des Landtags wegen.
Damit er es nicht sieht.

Zu dieser Zeit erreichte die Familienplanung, die von den höheren Schichten ausgegangen war, auch die Arbeiter. Junge Paare, die zu Beginn der 20er Jahren geheiratet hatten, brachten im Durchschnitt 2,27 Kinder zur Welt, zwischen 1925 und 1929 kamen die Ehen nur auf 1,98 Kinder.
Die Sexualforscher sahen in diesen Zahlen eine Chance für eine vernünftige Bevölkerungspolitik, ein Bestreben "die kaninchenhafte Zunahme des Menschengeschlechts zu unterbinden". Die Menschenproduktion sollte nicht mehr der natürlichen Fruchtbarkeit überlassen bleiben. Von staatlicher Seite war man darüber äußerst beunruhigt, daß die Kenntnis der Präventiv- und sogar Abtreibungsmittel sich immer weiter ausbreitete.
Nicht zuletzt gab man auch dem Ersten Weltkrieg eine Mitschuld: "Die Sehnsucht unserer Zeit ist es, endlich wieder wirklich zu "leben". In dieser Sehnsucht wurde sie (die Frau) reif für die neue Sexualmoral." (Julius Wolf). Die vom Krieg geschüttelten Deutschen wollten endlich leben und sich amüsieren! Berlin avancierte in den 20er Jahren zur Vergnügungsmetropole ganz Europas. Nirgendwo schwappte die neue Sexwelle so hoch, wie in dieser Stadt. Die deformierte Sinnlichkeit der Vergnügungsetablissements und des Prostituiertenmilieus erregte schon bald die Gemüter der Moralapostel. Man sprach von der "mit Erotik geradezu übersättigten Atmosphäre Berlins" und von Zersetzungserscheinungen der Großstädte, die für die junge Frau, aber auch für die Jugend eine gefährliche Herausforderung darstellten. Von geordneten Verhältnissen könne keine Rede mehr sein. Auch die neue Frauenmode tat ihr Werk: sie hüllte die moderne Frau in kniefreie Kleidung und gab ein Blick auf seidenbestrümpfte Beine frei. Beine, die in den Mittelpunkt des "erotischen Interesses" der Männer rückten und Teile der "Herrenwelt" bis heute begeisterten.




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