Die historische Mittwochsgesellschaft 1863-1944
3. Sitzung der HUMBOLDT-GESELLSCHAFT am 30.11.94 von Helge Martens
Die Mittwochsgesellschaft (MG) war ein Kreis von jeweils 16 herausragenden Natur- und
Geisteswissenschaftlern, höchsten Verwaltungsbeamten, Militärs, Wirtschaftsführern,
Kulturschaffenden und Regierungsmitgliedern, die sich alle zwei Wochen trafen, um im privaten Kreis
das freie wissenschaftliche Gespräch zu pflegen. Die Vereinigung war weltanschaulich
ungebunden und vereinigte in der preußischen und späteren Reichshauptstadt Berlin die
Elite aus Wissenschaft, Politik und Geistesleben.
Sinn und Zweck der regelmäßigen Zusammenkünfte war nicht nur der wissenschaftliche
Austausch auf höchstem Niveau, sondern auch geselliges Beisammensein.
Seit 1933 gerieten einige Mitglieder in moralischen Konflikt zur Staatsführung und beteiligten
sich am gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944. Die MG war aber keine ausgesprochene
Widerstandsgruppe, wenn auch Männer wie Generaloberst Ludwig Beck als führende Köpfe
des militärischen Widerstandes anzusehen sind.
Die Gesellschaft hatte ihre geistigen Wurzeln im späten 19. Jh und wurde maßgeblich
durch den Aufschwung der Wissenschaften, Kunst und Kultur im Zweiten Kaiserreich geprägt.
Dabei profitierte man insbesondere von der räumlichen Nähe zu den führenden
Universitäten, Regierungsinstitutionen und dem regen Geistesleben in Berlin. Die politischen
Verwerfungen des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Zeit überstand die MG unbeschadet. Sie
wurde nach ihrer 1056. Sitzung im Juli 1944 von der Geheimen Staatspolizei zerschlagen. Einige
Mitglieder wurden verhaftet und als Mitwisser der Attentatspläne abgeurteilt.
Nach dem Krieg machte keines der ehemaligen Mitglieder der MG den Versuch, die Tradition der MG
wiederzubeleben. Die eigene Geschichte war zu eng mit dem geistigen Schicksal des Deutschen Reiches
verwoben gewesen.
In welchem Zusammenhang steht die Gründung von 1863? Die Gründung von ähnlichen
Gesellschaften war im 19. Jahrhundert nicht selten gewesen. Sie standen in der Tradition der
bürgerlichen Aufklärung ? es wurde der Versuch gemacht, Wissenschaft und Geselligkeit zu
verbinden. Die Kreise waren Ausdruck der hohen geselligen Kultur der Zeit. So bestanden in den
meisten Universitätsstädten ähnliche Vereinigungen, die Berliner MG scheint sich an
einer "Göttinger Freitagsgesellschaft" orientiert zu haben. Theodor Heuss berichtete
von einem "Dahlemer Samstag", Paul Fechter gehörte auch zum
"Montagstisch". Zu nennen sind auch Meineckes legendäre
"Sonntagsspaziergänge" sowie die "Mittwochabendgesellschaft" bei
Delbrück.
Die Berliner "freie Gesellschaft zur wissenschaftlichen Unterhaltung" wurde im Jahre 1863 gegründet:
Am 19. Januar versammelten sich 15 Männer im Hause von Noritz August von Bethmann Hollweg, des
ehemaligen preußischen Staats- und Kultusministers und Großvaters des Reichskanzlers,
um ein von Bethmann vorbereitetes Gründungsstatut zu unterzeichnen. Unter ihnen befanden sich
auch der Ägyptologe Lepsius, der Philosoph Trendelenburg und der damalige Rektor der Berliner
Universität, Beseler. Schon hier wird durch die Aufnahme von Vertretern der
unterschiedlichsten Fachdisziplinen ein weiter Themenkreis gebildet und man verständigte sich
von Anfang an darauf, die Tagespolitik im engeren Sinne auszuschließen. Auffällig ist,
daß kaum Adelsnamen vertreten sind. Es handelt sich also fast ausschließlich um
Vertreter des gehobenen Bildungsbürgertums.
Zwei wesentliche Punkte haben zu der beachtlichen Kontinuität der MG geführt: Die
vorsichtige, aber gezielte Auswahl von Mitgliedern und die innere Organisationsform:
a. Es versammelte sich eine repräsentative geistige Elite Preußens und des Reiches.
Die Hauptstadt bot ein unerschöpfliches Reservoir an geeigneten Persönlichkeiten, viele
führende und international bedeutende Institutionen zogen angesehene Wissenschaftler nach
Berlin ? seit 1871 war die Reichsregierung in Berlin, schon bald danach ihrer Gründung 1810
entwickelte sich die Friedrich-Wilhelm-Universität zur führenden Hochschule Deutschlands,
es gab die Preußische Akademie der Wissenschaften und seit 1911 die Kaiser-Wilhelm
Gesellschaft. Jedes Mitglied der MG war eine anerkannte Autorität auf seinem Gebiet, so
daß durch die Vorträge ein hochkarätiges und geistig bewegliches Niveau
verbürgt war: So erfuhren die Anwesenden bereits 1943 durch Heisenberg von den Aussichten der
Entwicklung in der Kernforschung. Es galt der Grundsatz: Je hochkarätiger die Mitglieder,
desto besser die Gesellschaft! (Die Gesellschaft steht und fällt also mit den Teilhabern.)
Aber nicht nur die wissenschaftliche Qualität war entscheidend, sondern auch die ideelle
Ebene. Die Gesellschaft war zwar weltanschaulich ungebunden, es trafen also konträre
Überzeugungen aufeinander, aber in wesentlichen Punkten gab es immer Übereinkunft:
Nämlich in Fragen der Werte, die sich nur unzureichend mit Begriffen wie "Würde des
Menschen" und deren Unantastbarkeit umschreiben ließen. Diese Wertegemeinschaft,
unabhängig davon, wie sie zum III. Reich stand, sah ihre Wurzeln in der damals
allgegenwärtigen Präsenz der Traditionen von abendländisch-christliche Kultur,
bürgerlicher Aufklärung und der Nähe zur Antike, also im Humanismus. Selbst bei
Affinität einiger weniger Mitglieder zum Regime war bei allen doch ein moralisches
Bewußtsein, eine Grenze zum Machbaren und ein Verantwortungsbewußtsein
gegenwärtig, auch in den Zeiten des schnellen Rausches und Taumels. Die Bedeutung dieser Werte
für die Gemeinschaft, auch zur Erfassung der inneren Atmosphäre der Sitzungen,
läßt sich aus der heutigen, oft historisch entstellenden Sichtweise auf die später
eskalierenden Ereignisse, nur schwer erschließen. Vielmehr wird ein Blick vom ausgehenden 19.
Jahrhundert auf die nachfolgende Entwicklung der Sache viel eher gerecht als manch andere, oft
voreingenommene Sichtweise der späteren Zeit. Dies ist zwar der steinigere, aber auch der
lohnendere Weg.
b. Auch der Ausschluß der Tagespolitik von den Vorträgen hat sich positiv auf den
Zusammenhalt des Kreises gerade in der späteren zeit der Bedrängung und Bedrückung
ausgewirkt. Das politische Moment konnte allerdings nicht ganz zurückgestellt werden, denn es
waren vornehmlich repräsentative Ämter, teilweise sogar in Verwaltung, Staat und
Regierung, die die Mitglieder des Kreises bekleideten. Politische Parallelismen sind in einigen
Vorträgen sicherlich gewollt, aber sie halten sich diskret zurück und bedecken sich nicht
selten mit einem vermeintlich unpolitischen Thema. Die Zurückhaltung in diesem Punkt ist
Ausdruck einer hohen, uns heute nicht selten fern liegenden Sensibilität, und andererseits
Zeugnis eines ausgeprägten Bewußtseins, daß die tagespolitische Aussparung und
somit die Zurückstellung von Reizthemen zum Vorteile der inneren Homogenität der Gruppe
gereichen würde. Bereichernde Heterogenität floß der Gesellschaft ja allein aus der
Tatsache entgegen, daß ein breiter fachwissenschaftlicher Kanon vertreten war und es so keine
Einschränkung der Themenvielfalt gab.
Auch das altehrwürdige Moment, sicherlich ein nicht notwendiger, aber förderlicher
Mörtel für den Zusammenhalt, ist heute nur noch schwerlich nachzuvollziehen: Die
Mitgliedschaft war Ehrensache ? es herrschte ein distinguierter Ehrenkodex vor ? Paul Fechter
verglich die Aufnahme einmal mit der "Verleihung eines unsichtbaren Ordens".
Dementsprechend ernst nahmen die Männer auch ihre Mitgliedschaft, was ohne Zweifel zu der
81-jährigen Dauer der Tradition, dem hohen Niveau und der inneren Kontinuität
geführt hat. Nur selten schied ein Teilnehmer aus, Gründe hierfür wären
allenfalls Krankheit oder Wegzug aus Berlin gewesen.
Alle 16 Mitglieder gingen die Verpflichtung ein, zu den Sitzungen regelmäßig zu
erscheinen und selbst zweimal im Jahr Gastgeber und somit Vortragender zu sein, also "für
geistige und leibliche Nahrung zu sorgen ? letzteres in einfacher Form" ? um es mit den Worten
des letzten "Kanzlers" Penck zu sagen. Die MG wählte einen Senior zum Kanzler,
welcher die Leitung nach innen und außen hin übernahm. Seit 1924 ist dies der Geograph
Albrecht Penck gewesen. Der Vortragende mußte seinen Beitrag nach eigenem Ermessen
protokollieren und in ein Buch eintragen. Die Bände wurden gesammelt und von Anfang an in der
Bibliothek der Preußischen Akademie der Wissenschaften verwahrt, was wohl von zweierlei
zeugt: Einerseits von einem hohen Selbstbewußtsein des Kreises, andererseits von einem Willen
zur Zeitdokumentation, bzw. einem Bewußtsein, etwas zu produzieren, was für die Nachwelt
von Bedeutung sein würde. Am Schluß kamen so 19 vollständige Bände zustande,
die nicht nur Aufschluß über die innere Atmosphäre des begrenzten Kreises gibt,
sondern auch über die Befindlichkeit der Zeit. Der Begriff "Protokolle aus dem geistigen
Deutschland" ist nicht zu hoch gegriffen. Es traf sich ja regelmäßig zwar nicht
die geistige Führungselite des Reiches ? der Begriff wäre zu schlecht abzugrenzen
? aber man kann von einer Elite sprechen. Aus der Unfaßbarkeit des Begriffes
"Führungselite" auf geistiger Ebene läßt sich Folgendes schließen:
Herkömmliche Verallgemeinerungen, gängige Reduktionen und unsensible Zuweisungen
können der damaligen Vielschichtigkeit nicht gerecht werden. Genau wie in der MG trafen in der
gesamten deutschen Gesellschaft die unterschiedlichsten Strömungen aufeinander, kaum
beschreibbar, die sich in Denkkategorien und Vorstellungsvermögen des Machbaren entscheidend
voneinander abgrenzten, widersprachen und sogar gegenseitig ausschlossen. Der Begriff der
Zeit war "Nebeneinander", was sich in ein "Gegeneinander" verkehrte. So eine
Entwicklung hat es innerhalb der MG nicht gegeben. Trotz unterschiedlicher Denkansätze sah man
sich in der selben Tradition, in der selben Verantwortung, in der selben Denkkategorie. Alle
Mitglieder, die in Staatsdiensten standen, gerieten auch in deutliche Opposition zur
Staatsführung. Beck und von Hassell sowie Popitz bezahlten das mit dem Leben. Auch hierin
liegt ein allgemeines Phänomen der deutschen Intelligenz: Das Unterschätzen des
politischen Gegners und seine Beurteilung mit anderen Denkkategorien als angemessen. Diese
Fehleinschätzung des Neuen, was eigentlich das Archaische gewesen ist und was anfänglich
neben dem Entwickelten, Traditionellen, Altehrwürdigen und Freien, aber in seinen
Vorstellungskapazitäten und ?Kategorien doch allzu Begrenzten, gestanden hatte, hat allen das
Genick gebrochen: Der Tradition, dem Reich, seinem Kontinent, Millionen seiner Menschen und nicht
zuletzt dem Kreis und seinem althergebrachten Konservatismus, der seither, wenn nicht unter dem
Verdacht des Steigbügelhaltens, so doch unter dem der Wehrlosigkeit und Naivität zu
leiden hat. Auch hieraus erklärt sich das mangelnde Bedürfnis nach dem Zusammenbruch des
Reiches 1945, die Tradition der MG wiederzubeleben.
Wie bereits ausführlich dargelegt, waren die Männer der MG durchweg
Spitzenkräfte und international anerkannte Autoritäten in ihrem Fachgebiet. Eine Liste
aller Mitglieder seit 1932 ist den Ausführungen beigefügt. Um die hervorragende
Qualität der wissenschaftlichen und staatspolitischen Leistungen zu unterstreichen, sei zu
bemerken, daß von den 28 Teilnehmern 1932 ? 1944 allein 18 Männer Ordinarien an der
Universität bekleideten, 17 Mitglieder auch gleichzeitig an der Preußischen Akademie der
Wissenschaft tätig waren und daß der Kreis sogar zwei Direktoren des
Kaiser-Wilhelm-Instituts stellte.
Die innere Atmosphäre läßt sich am besten anhand von persönlichen
Kommentaren einiger Teilnehmer nachzeichnen:
Friedrich Meinecke, Historiker, äußerte Anfang 1915 in einem Brief an den Kollegen
Dove: "Es wird Sie interessieren, daß ich jetzt der alten Mittwochs-Gesellschaft
angehöre, deren Säule eines ihr Vater war. Diels forderte mich freundlich auf, auch hier
an Lenzens Stelle zu treten. Senior und "Kanzler" ? denn die Sache ist ja sehr feierlich,
ist jetzt W. Förster. (...) Zuerst mutete mich das Ganze sehr gerontisch an, denn schlechte
Witze, wie im Freiburger Kränzchen, darf man hier nicht machen, aber allmählich
spürte ich doch das sehr ungezwungene und menschliche Wesen der meisten und eine zwar etwas
ehrwürdige, aber sehr gute und feine Tradition. Die gleichmäßig temperierte
Wärme dieses Kreises und die ganze äußere Ruhe und Behaglichkeit des Lebens, das
wir hier führen, kontrastiert freilich oft zu stark von dem, was uns allen im Grunde das Herz
schwer macht."
Der Kunsthistoriker Weisbach meinte später im Rückblick, daß der Gewinn, die
Erweiterung des Gesichtskreises "durch das, was ich im Laufe der Jahre von geistes- und
naturwissenschaftlichen Dingen, von Verwaltung, Wirtschaft, Finanzen, Militär zu hören
bekam" überwog. "Wohltuend berührte auch eine humane Gesinnung, die in der
Gesellschaft gepflegt wurde. War einmal jemand aufgenommen, so trat einer für den anderen ein,
darin bekundete sich ein schönes Gemeinschaftsgefühl, das auf gegenseitiger
Schätzung beruhte, und das habe ich auch, als unter dem Nationalsozialismus eine verzweifelte
Lage für mich eintrat, zu spüren bekommen."
Kanzler Penck faßte die wichtigsten Punkte im Rahmen einer Festansprache zur 900.
Sitzung zusammen und traf damit das Wesen der Gesellschaft ganz treffend:
"Unsere Gesellschaft steht eigenartig da, als ein Kreis von Männern, die keine
Satzung zu befolgen haben, keine Mitgliedsbeiträge zu zahlen haben, keinen vorsitzenden
Führer, sondern nur einen Kanzler haben, ... sie vereint Männer der verschiedensten
Richtungen und Weltanschauungen auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung ihres sittlichen
Charakters und aufrichtiger Liebe zur Wahrheit, sie ist eine geistige Gemeinschaft, bei der es auch
für entgegenstehende und nicht ohne weiteres auszugleichende Ansichten ein Gebiet gemeinsamer
Überzeugung gibt, begründet zum Zwecke des freien Austausches wissenschaftlicher Gedanken
über die mannigfachsten Gegenstände mit alleiniger Ausnahme der Tagespolitik."
Der "ideale Persönlichkeitstyp" für die Mittwochsgesellschaft:
"Umfassend gebildet, von brillanter Intelligenz und mit einer starken Neigung zur
Antike..." (Scholder über J. Popitz).
Helge Martens
Literatur: K. Scholder 1982: Die Mittwochsgesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland
1932 - 1944. Berlin.
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