Siedlungsgeschichte Zehlendorfs
2. Sitzung der HUMBOLDT-GESELLSCHAFT am 15.11.1994 von Stefan Nehrkorn
Ich spreche heute über die siedlungsgeschichtliche Entwicklung des südwestlichen
Berlins ( Schwerpunkt Zehlendorf ), des Gebietes, dem wir uns heimat- oder wahlheimatlich verbunden
fühlen. Die geomorphologischen Gegebenheiten eiszeitlicher Prägung auch des
südwestlichen Teils von Berlin können als bekannt vorausgesetzt werden. Auch deswegen
liegt der Schwerpunkt des Vortrages auf der Siedlungshistorie. Ein solches Thema birgt immer die
Schwierigkeit, lokales und anekdotisches mit allgemeingeschichtlichem angemessen und richtig zu
verknüpfen.
Steinbeilfunde ( z.B. auf dem Fichtenberg ) weisen 8000 bis 10000 Jahre in die Altsteinzeit
zurück, in der im Havelraum nomadische Rentierjäger allmählich seßhaft wurden.
Während man für die Steinzeit keine länger bewohnte Siedlung nachweisen kann, haben
in der Bronzezeit ca. 1000 v. Chr. Bauernfamilien etliche Jahrzehnte im Bäketal
gelebt. Bei Ausschachtungsarbeiten für das Universitätsklinikum Steglitz legten
Archäologen ein Dorf frei. Es bestand aus sieben bis acht rechteckigen Häusern,
Pfostenbauten mit Lehmwänden. Am Rande der von einem Zaun umgebenen Siedlung, die auf einer
leichten Erhöhung inmitten eines Fluß- und Sumpfgebietes lag, stieß man auf einen
wichtigen Fund. Es war ein Opferbrunnen, ein ausgehöhlter Eichenstamm mit mehr als 100
Tongefäßen, die Honig, Getreide und Gewürze enthielten. Solche Brunnenopfer wurden
dargebracht, um sich des Beistands der Götter in schlechten Zeiten zu versichern, oder ihnen zu danken.
Bis etwa zur Völkerwanderung war der Teltow Durchzugs- und Siedlungsgebiet der Illyrer
und Germanen. Wichtigstes archäologisches Zeugnis ist hierfür ein Hortfund in Giesendorf.
Die deutschen Siedler, die um das Jahr 1200 von Westen sowie aus Mitteldeutschland über die
Elbe nach Osten aufbrachen, folgten Aufrufen der askanischen Markgrafen Brandenburgs. In der
Folge entstanden hunderte von Dörfern und Städten.
Im Raum Zehlendorf gab es keine Siedlung - zwischen dem wendischen Fischerdorf Stolpe und der Spree
kein Dorf. Die Siedler zog es zunächst an die Seen und Pfühle. Hier bot sich dem
mitgebrachten Vieh Wasser und Weidegrund. Der Fischfang war eine willkommene Bereicherung des
kärglichen Speiseplans. Aber die kleinen Dörfer, die sie hier gründeten -
Slatdorp am Schlachtensee, Krummendorf an der Krummen Lanke, am Krummen Fenn - heute
Museumsdorf Düppel - hatten alle einen gemeinsamen Fehler: Die Böden waren von minderer
Qualität - sumpfig und sandig.
Alsbald suchten die Einwanderer, vermutlich unter Anleitung ackerbaukundiger
Zisterziensermönche aus Lehnin um 1220 nach besseren Siedlungsplätzen. Im neuen
Dorf gab es fruchtbare Mergel- und Lehmböden. Zwei Dorfteiche sorgten für das nötige
Wasser. Hier gründeten sie nach bewährtem Schema ein Angerdorf. Diese Anlage ist bis
heute erkennbar. Die Kolonisten siedelten in 12 Höfen, die beiderseits entlang des Dorfangers
angeordnet waren. Dort betrieben sie eine Dreifelderwirtschaft mit Flurzwang. Die Zehlendorfer
Allmende mit Weide- und Holzschlagrechten reichte bis zum Wannsee. Der Flurzwang machte die
Bewirtschaftung für alle Bauern verbindlich. Streitigkeiten schlichtete ein dem Kloster Lehnin
unterstehender Schulze. Den Bauern ging eine wechselnde Zahl von Kossäten zur Hand, die
Haus und Grundstück besaßen, aber nicht an der Flur beteiligt waren. Bei der
Dorfgründung waren es vier, darunter der Müller am Herberger Weg und der Schmied im
Norden Zehlendorfs. Die Dorfstraße verband Spandau mit Saarmund und war für Reisen der
Lehniner Mönche wichtig, die den Dorfkrug als Rasthaus nutzten.
Diesen recht genauen Einblick in die Dorfstruktur - etwa 150 Jahre nach Gründung -
ermöglicht das Landbuch Karl IV. von 1375. Nach dem Tode des letzten askanischen
Markgrafen 1319 folgten schwere politische Wirren, nach deren Ende Kaiser Karl IV. selbst die Mark
übernahm. Um sich einen Überblick zu verschaffen, ließ er eine Bestandsaufnahme der
märkischen Dörfer und Städte anfertigen, in der Größe, Personen, Stand
und Steuern festgehalten wurden.
Die unter Karls Sohn folgende Zeit brachte ungeordnete Verhältnisse
-
durch Verpfändung und Raubrittertum - über die Mark. Erst als Friedrich I. -
Burggraf von Nürnberg - 1417 Landesherr und Kurfürst wurde ( ein
Hohenzollern ), etablierte sich Ordnung und Ruhe wieder.
1539 trat der Kurfürst Joachim II. zur lutherischen Konfession über. Die Mönchsorden
wurden aufgelöst, die kirchlichen Güter eingezogen. Die Kurfürstliche Verwaltung am
Mühlendamm zu Berlin übernahm Zehlendorf.
Dann brach der Dreißigjährige Krieg ( 1618-48 ) aus. Ein
verkehrsgünstig gelegener Ort wie Zehlendorf bekam die Folgen eines in einem offenen Land
geführten Krieges zu spüren. Dabei wirkten oft die von den Soldaten mitgebrachten Seuchen
verheerender als die Kämpfe und Plünderungen der Soldaten aus allen Ländern Europas.
Das Nichtbestellen der Felder und der Hunger taten ihr übriges. Im benachbarten Teltow starben
1631 allein 200 Menschen an der Pest - bei damaliger Dorfgröße ein immenser Verlust.
1652 verfaßte der Dorfchronist Herberger eine Gemeindeordnung, in der er moralische
und soziale Verhaltensmaßstäbe für alle Lebensbereiche festzuschreiben versuchte:
Der tägliche Bierkonsum wurde reglementiert, die Länge einer Hochzeit auf zwei Tage
beschränkt und Stehlen für unmoralisch erklärt.
Der als tolerant geltende Große Kurfürst leistete durch seine
Einwanderungspolitik
( Edikt von Potsdam 1685 ) Wiederaufbauhilfe für die Mark. 1660 machte er Potsdam zu seiner
Sommerresidenz. Die damals geschaffene Verbindung nach Potsdam hieß der Gemeine Weg
und führte über die Glieniker Brücke nach Potsdam. Kurz hinter der Kreuzung mit der
alten Straße nach Spandau erbaute Friedrich Wilhelm I. 1730 eine Abkürzung - den
Königsweg. Er verringerte die Reisezeit auf vier Stunden.
Die Auswirkungen des von Friedrich II. verschuldeten Siebenjährigen Kriegs ( 1756-63 )
erreichten Zehlendorf am 7. Okt. 1760. Österreichische Truppen kroatischer Nationalität
plünderten und brandschatzten im Dorf. Die Kirche nahm Schaden, der Kelch und der
Abendmahlswein verschwanden. Das Geld zum Neubau einer kleinen achteckigen Kirche hat der
König als Patronatsherr gestiftet. Er war des Anblicks einer zerstörten Kirche beim
Pferdewechsel in Zehlendorf müde. Die Kirche wäre sicher größer und besser
gebaut worden, wenn sich nicht der Baukondukteur mit der Hälfte ( 3000 Taler ) der Bausumme
über die sächsische Landesgrenze abgesetzt hätte. Der Kirchturm mußte 20 Jahre
nach der Kirchweihe 1768 wegen Einsturzgefahr abgetragen werden. Die auf dem Kirchhof noch
vorhandenen Maulbeerbäume dienten Seidenspinnerraupen zur Nahrung. Der Dorflehrer verdiente
sich durch das Abliefern der Kokons an Seidenmanufakturen Friedrichs II. ein Zubrot.
1792-95 entstand die Steinbahn, die erste befestigte preußische Chaussee und das
Kernstück der späteren Reichsstraße 1. Meilensteine existieren noch am Innsbrucker
Platz, in Zehlendorf ( Ahornstraße ) und Wannsee ( gegenüber vom Rathaus ).
Die Napoleonischen Kriege kamen auch nach Zehlendorf. 1806 brannten französische
Soldaten nach vorheriger Plünderung das halbe Dorf nieder. 1813 legte eine Kanonenkugel die
südliche Mühle in Trümmer.
Nach Beendigung der Freiheitskriege setzten in Preußen die
Stein-Hardenberg'schen Reformen ein. Neben der Auflösung staatlicher Monopole
kam es zu einer völligen Neuordnung der bäuerlichen Besitzverhältnisse. Die bisher
von den Bauern bestellten und vererbten Fluren wurden ihr Eigentum. Sie konnten ihr Land nun auch
verkaufen. Die Allmende wurde separiert, also nach einem bestimmten Schlüssel in Eigentum
aufgeteilt. Der Flurzwang wurde aufgehoben. Diese Reformen schufen wichtigste Voraussetzungen
für die steigende Bedeutung des Dorfes als Vorort.
Im Herbst 1838 hielt ein neues Verkehrsmittel Einzug: die Eisenbahn. Sie verband Potsdam und
Berlin in 42 Minuten. Die Bahnanbindung Zehlendorfs wurde 1874 durch die Wannseebahn verbessert,
sie verband die Villenkolonie Alsen mit Berlin
( Bankierszug ). Sie ist auch als Entwicklungslinie dafür verantwortlich, daß sich
Zehlendorf stark nach Westen ausdehnte, Richtung Mexikoplatz.
Die Zehlendorf-Grunewald AG parzellierte den Bereich nördlich des Angerdorfs und
verkaufte an Privatleute, die sich an den vorgeschriebenen Landhausstil halten mußten. Der
dörfliche Charakter schwand.
Der vielleicht wichtigste Entwicklungszeitraum ist die Zeit nach dem Krieg 1870/71.
Reparationszahlungen strömten ebenso in den Berliner Raum wie Einwanderer. Berlin wuchs
jährlich um 40000 Menschen. Ein Teil des Zuwanderungsdrucks wurde von Vororten wie Zehlendorf
abgefangen.
Die Eröffnung des Teltowkanals 1901 reiht sich in die Geschichte der
Verkehrsinnovationen in Nordsüd-Abfolge ein: steinerne Chaussee, Eisenbahn, künstlicher
Wasserweg.
Die Selbstverwaltung Zehlendorfs fand ihre erste Einschränkung in der Gründung des
Zweckverbandes Berlin, der die Ver- und Entsorgung zentral organisierte. Die Kriegswirtschaft
ab 1914 förderte der Not gehorchend den zentralistischen Gedanken an ein Groß-Berlin.
Am 1. Okt. 1920 trat ein Gesetz des Preußischen Landtags inkraft über die Gründung
einer Stadtgemeinde Berlin. Die Meinung war gespalten, es kam zu teilweise heftigen
Protesten. Das Recht der Steuererhebung fiel an Berlin. Die Verteilung wurde nun zentral
vorgenommen.
Den neuen Ansprüchen der Verwaltung wurde die Gemeinde durch den Rathausneubau des Architekten
Eduard Jobst Siedler 1929 gerecht. Das Gebäude zerschneidet heute noch augenfällig die
alte Angerform. In dieser Zeit entstand auch die Onkel-Tom-Siedlung von Bruno Taut. Es
entstanden modern ausgestattete Wohnungen. Taut verwirklichte hier seine Interpretation der
Gartenstadtidee. Die Anfeindungen der Zehlendorfer auch wegen des ( heute wiederhergestellten )
Farbanstrichs reichten von Papageiensiedlung bis Neu-Jerusalem.
Die Idee des ländlichen Wohnens als Teil der stadtfeindlichen Ideologie der
Nationalsozialisten findet ihre bauliche Entsprechung in der NS-Siedlung am Schlachtensee.
Ein weiteres Zeugnis der NS-Zeit ist der Platz des 4. Juli. Er war gedacht als Kreuzungspunkt einer
Ausfallstraße mit dem 4. Ring, der Teil des Speerschen Ringstraßenkonzepts war.
Äußere Begrenzung war der Autobahnring.
Am 17. Dez. 1938 gelang den Chemikern Otto Hahn und Fritz Straßmann in einem
Gebäude in der Thielallee 63-67 die erste Kernspaltung eines Uranatoms mit den bekannten Folgen.
Der Zweite Weltkrieg kam u.a. durch Fliegerbomben nach Zehlendorf. Der Teltowkanal war 1945
die letzte Verteidigungslinie, wurde aber von der Roten Armee überrannt. So blieb der Schaden
für Zehlendorf verglichen mit Wannsee, wo bis zum 2. Mai 1945 gekämpft wurde,
verhältnismäßig gering. Das Leben begann sich neu zu organisieren.
Der Kalte Krieg brachte Zehlendorf in eine Randlage und machte unsichtbare
Verwaltungsgrenzen zu Staatsgrenzen: Bsp. Kleinmachnow. Der Mauerbau bringt amerikanisches
Militär nach Zehlendorf.
Eine Bürgerinitiative verhindert in den 70er Jahren die Untertunnelung des Teltower
Damms wie in der Drakestraße ausgeführt. Schlimme Folgen für die
Geschäftsstraße waren zu befürchten.
Durch die Wiedervereinigung ändert sich die Einzelhandelsstruktur. Die Ladenmieten auf dem
Teltower Damm verdreifachten sich zum Teil. Mit Mischkalkulationen arbeitende Ketten
verdrängen alte Strukturen. Ein diskutiertes Großprojekt ist der Bau einer Shopping-Mall
auf dem Gelände des Verbrauchermarktparkplatzes im Norden des alten Angers. Eine
Weiterentwicklung zum Unterzentrum wird meiner Meinung nach wegen der Nähe und guten
Erreichbarkeit der Schloßstraße ausbleiben.
Stefan Nehrkorn
Literatur:
Baedeker, K.: Berlin-Steglitz, Freiburg 1980.
Hofmeister, B.: Exkursionen durch Berlin und Umland, Berlin 1992.
Ribbe, W.: Geschichte Berlins (2 Bd.), München 1988.
Trumpa, K.: Zehlendorf gestern und heute, Berlin 1982.
Trumpa, K.: Zehlendorf in der Kaiserzeit, Berlin 1983.
Schauplätze der Vergangenheit (Reihe): Berlin, Dortmund 1991.
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