Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt.
Ein zweitausendjähriger Topos.
153. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 06.09.03 von Dr. Christoph Hönig (Gastvortrag)
Christoph Hönig
Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt
Der Topos. Texte und Interpretationen
Verlag Königshausen und Neumann
Würzburg 2000
In Christoph Hönigs Buch werden 22 Texte zur Lebensfahrt auf dem Meer der Welt vorgestellt und interpretiert. Weitere 40 Texte folgen unkommentiert. Der Topos von der Lebensfahrt findet sich in Gestalt ganz verschiedener Textsorten, in Poesie und Prosa:
als religiöser Hymnus, geistliches Lied, Sonett, Liebesgedicht und Gedankenlyrik, Parabel, Briefstelle oder Tagebuchnotiz, im philosophischen Diskurs, im Drama und Roman.
(aus: Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt S.9 ff)
Das Meer - der Sturm - das Schiff - das Scheitern - der Hafen: jedes dieser Bilder
löst für sich selbst gewiß schon starke Empfindungen und lebhafte Vorstellungen
aus. Insgesamt, als Konfiguration, als Topos, haben diese Bilder die Phantasie und
Formulierungsfreude immer wieder neu stimuliert. Das Schiff vor allem hat man mit vielerlei Bedeutungen befrachtet und zum Staats-, Gesellschafts-, Menschheits-, Kirchen-, Narren-, Geister- und Lebensschiff stilisiert. (...) Es wird sich als eine unvergleichlich starke und anschauliche Daseinsmetapher erweisen, die immer wieder variiert wird - über zwei Jahrtausende hin. (...)
Was ist ein Topos?
In der antiken Rhetorik war die Topik so etwas wie ein Vorratsmagazin zum Finden
von Gemeinplätzen für die Rede. Unter Topos (= griechisch: der Ort, der Platz; Plural: Topoi)
versteht man seit Ernst Robert Curtius und der modernen Toposforschung feste Denkfiguren,
Redewendungen und vorgeprägte Bildformeln. Die Definitionen schwanken, insgesamt aber ist festzustellen:
Topoi sind Denk- und Ausdrucksschemata, die oft schon seit der Antike als kultureller Gemeinbesitz tradiert
und dabei immer wieder abgewandelt werden.
In der Antike dienten sie der rhetorischen und literarischen Produktion; heute sind
sie vorwiegend ein Instrument der Interpretation. Aus der antiken Rhetorik wurden
Topoi als geprägte Ausdrucksweisen weitervermittelt an die lateinische Literatur des
Mittelalters, an die Renaissance und den Barock. Im 18. Jahrhundert wurde die über
zweitausendjährige literarische Tradition weitgehend abgelöst vom Prinzip der Originalität:
Jedes Werk, jede Formulierung sollte von nun an individuell und originell
sein; Konventionelles und Klischeehaftes verfiel der Verachtung. Seitdem geriet
der Toposbegriff lange Zeit fast in Vergessenheit und kann nun, nach seiner Wiederbelebung,
entgegengesetzte Wertungen meinen: einerseits - im positiven Sinne - die
Ausdruckskraft und Beständigkeit eines überlieferten Vorstellungsmodells, andererseits - im negativen Sinne
("bloß ein Topos") - die Ausdrucksschwäche als abgenutztes Klischee,
als Abklatsch. Wird der Begriff als heuristischer Terminus
technicus verwendet, verweist er einerseits auf die erstaunliche Kontinuität, andererseits auf die Variabilität
unter den Bedingungen der einzelnen Epochen. Der gleiche
Topos kann - wie sich am Beispiel des Topos von der Lebensfahrt auf dem Meer der
Welt zeigen wird - durch verschiedene Denker und Dichter mit unterschiedlichem
Geist erfüllt werden. (...)
Im nautischen Bildbereich kreuzt, so zeigte es sich, seit alters eine kleine Flotte bedeutungsbefrachteter Schiffe:
das Staats-, Gesellschafts-, Menschheits-, Kirchen-,
Narren-, Geister- und Lebensschiff. Sie ließen sich in zwei Klassen einteilen: Bei
allen dient die Schiffsbesatzung als überschaubares Gesellschaftsmodell - bis auf das
Lebensschiff. Hier handelt es sich offenbar um Einhandsegler. Im Topos von der Lebensfahrt
auf dem Meer der Welt wird das Schiff mit Steuermann zur Daseinsmetapher des Menschen schlechthin.
Hier ist das Bildensemble - Meer, Schiff, Steuermann, Zielhafen - von so elementarer und klarer Selbstverständlichkeit,
daß es jedem vor Augen steht, auch wenn
nur ein oder zwei der maritimen Metaphern genannt werden: sogleich ist das Ganze
des Topos gegenwärtig. Ja, gerade darin erweist sich eine seiner Kerneigenschaften:
die Kraft der Kontinuität. Wie auch immer der Topos von der Lebensfahrt abgewandelt wird, er steht über zwei
Jahrtausende hin vor uns als ein starkes, leicht überschaubares Bild,
dessen Elemente stets gegenwärtig und zugleich auch so ausbaufähig sind, daß sie immer wieder neu mit
Bedeutungen befrachtet werden können.
Denn es ist eine uralte existentielle Erfahrung im Blick auf das Ganze des Menschenlebens, seine
Schicksalsgefährdung und seine Bestimmung,
die hier in einer Konfiguration anschaulich werden. (...)
Will man den Kurs, den die verschiedenen Lebensfahrten hier nehmen,
im Überblick verfolgen, ist jeweils ein Blick auf die einzelnen Bildelemente des Topos von der Lebensfahrt auf dem Meer der
Welt angezeigt.
Das Meer ist stets ein Bild der Welt: unüberschaubar, von trügerischer Glätte,
aufgewühlt von Stürmen, den Schicksalsschlägen, voller verborgen lauernder Klippen und Riffe, den Fährnissen des Lebens.
Das Schiff entspricht in seiner Körperlichkeit meist dem Leib des Menschen.
Das Segel versinnbildlicht den Antrieb, das Steuerruder die Lenkung des Lebensschiffes.
Der Steuermann ist das Ich, der Wille oder die Seele, der Geist, aber auch - personifiziert - die Philosophie oder der Glaube.
Seltener ist die Rede vom Leitstern, vom Leuchtfeuer oder vom Kompaß, die
der Orientierung dienen.
So weit ist der Bildbestand mit seinen Bedeutungen leicht überschaubar. Und
dies ist ja nicht zuletzt ein Grund für die Evidenz und Kontinuität dieses Topos.
Heißt das nicht aber auch beständige Wiederholung und Variation des Immergleichen, also: der Topos als Klischee?
Doch da ist noch ein Bildelement auf irritierende
Weise offen: Es ist "die Hafenfrage" (Gottfried Benn). Gibt es für das Lebensschiff - wie für jedes Schiff - einen Bestimmungshafen?
Wenn ja: Welches ist das
Ziel der gefährlichen Fahrt durch das Weltmeer?
Das Streiflicht eines Leuchtturms erhellt im großen Bogen für Augenblicke ein
Stück des Meeres und gegebenenfalls auch den Hafen. So könnte auch in der
"Hafenfrage" immer wieder ein Streiflicht fallen auf ein Hauptproblem der europäischen Geistesgeschichte:
die existentielle Frage des Menschen nach seinem eigenen
Ich als Steuermann, nach dessen Kurs durch die Welt und nach dem Ziel - dem Wer,
Wohin und Wozu. (...)
Drei Beispiele,
im Rahmen dieser Kurzdarstellung ohne Interpretation wiedergegeben.
Ausführliche Textanalyse:
Cicero - S. 38 ff
Gryphius - S. 55 ff
Heisenberg - S. 139 ff )
(...)
Cicero (106 - 43 v. Chr.
Schon von frühester Jugend an haben mich mein Wille und mein Studium in die
Bucht der Philosophie getrieben, und unter den gegenwärtigen schwersten Schlägen, von großem Sturm durchgerüttelt,
habe ich mich in denselben Hafen geflüchtet,
aus dem ich ausgelaufen war. O Philosophie, du Lenkerin des Lebens [...]!
(Gespräche in Tusculum. 5. Buch, 5. Geschrieben 45 v. Chr.)
(...)
Andreas Gryphius (1616 - 1664)
An die Welt
Mein oft bestürmtes Schiff, der grimmen Winde Spiel,
Der frechen Wellen Ball, das schier die Flut getrennet,
Das über Klipp auf Klipp und Schaum und Sand gerennet,
Kommt vor der Zeit an Port, den meine Seele will.
Oft, wenn uns schwarze Nacht im Mittag überfiel,
Hat der geschwinde Blitz die Segel schier verbrennet.
Wie oft hab ich den Wind und Nord und Süd verkennet!
Wie schadhaft ist der Mast, Steuer-Ruder, Schwert und Kiel!
Steig aus, du müder Geist! Steig aus! Wir sind am Lande.
Was graut dir vor dem Port? Itzt wirst du aller Bande
Und Angst und herber Pein und schwerer Schmerzen los.
Ade, verfluchte Welt: du See voll rauher Stürme!
Glück zu, mein Vaterland, das stete Ruh im Schirme
Und Schutz und Frieden hält, du ewig-lichtes Schloß!
(Veröffentlicht 1643)
(...)
Werner Heisenberg (1901- 1976)
Das Bewußtsein der Gefahr in unserer Situation
[...] Mit der scheinbar unbegrenzten Ausbreitung ihrer materiellen Macht kommt
die Menschheit in die Lage eines Kapitäns, dessen Schiff so stark aus Stahl und Eisen gebaut ist,
daß die Magnetnadel seines Kompasses nur noch auf die Eisenmasse
des Schiffes zeigt, nicht mehr nach Norden. Mit einem solchen Schiff kann man kein
Ziel mehr erreichen; es wird nur noch im Kreis fahren und daneben dem Wind und
der Strömung ausgeliefert sein. Aber um wieder an die Situation der modernen Physik zu erinnern:
Die Gefahr besteht eigentlich nur, solange der Kapitän nicht weiß,
daß sein Kompaß nicht mehr auf die magnetischen Kräfte der Erde reagiert. In dem
Augenblick, in dem Klarheit geschaffen ist, kann die Gefahr schon halb als beseitigt
gelten. Denn der Kapitän, der nicht im Kreise fahren, sondern ein bekanntes oder
unbekanntes Ziel erreichen will, wird Mittel und Wege finden, die Richtung seines
Schiffes zu bestimmen. Er mag neue, moderne Kompaßarten in Gebrauch nehmen,
die nicht auf die Eisenmasse des Schiffes reagieren, oder er mag sich, wie in alten
Zeiten, an den Sternen orientieren. Freilich können wir nicht darüber verfügen, ob
die Sterne sichtbar sind oder nicht, und in unserer Zeit sind sie vielleicht nur selten
zu sehen. Aber jedenfalls schließt schon das Bewußtsein, daß die Hoffnung des Fortschrittsglaubens
eine Grenze findet, den Wunsch ein, nicht im Kreise zu fahren, sondern ein Ziel zu erreichen.
In dem Maße, in dem Klarheit über diese Grenze erreicht
wird, kann sie selbst als der erste Halt gelten, an dem wir uns neu orientieren können. [...]
(Veröffentlicht 1955)
Zitiert nach: Werner Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik.
Hamburg: rowohlts deutsche enzyklopädie 8, 1955, S. 22
(...)
Christoph Hönig
Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt
Der Topos. Texte und Interpretationen
Verlag Königshausen und Neumann
Würzburg 2000
ISBN 3-8260-1901-6
171 Seiten
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