Geschichte des Fußballs
64. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 16.07.1998 von Stefan Nehrkorn
Im europäischen
Mittelalter wurde das Fußballspiel ein zweites Mal erfunden. Entgegen anderen
Behauptungen wurde in der Antike nicht Fußball gespielt.
Zahlreiche Ballspiel im Rahmen gymnastischer Übungen sind zwar
erwähnt, doch liegen die Wurzeln des Urfußballs in
Nordfrankreich und England.
Von den Anfängen bis
zur Festschreibung der Regeln im 19. Jahrhundert war es ein rohes
Spiel und keineswegs gefahrlos. Die offene Mannschaftsstärke
ließ Streit zwischen Dörfern - unter dem Deckmantel des
Spiels - oftmals zur anarchischen Massenschlägerei mutieren.
Der Brauch, die Waffen für die Dauer des Spiels nicht abzulegen,
führte zu vielen Todesfällen. Nicht zufällig sind die
frühsten Belege der Fußballgeschichte Gerichtsakten
(zuerst 1137), in denen über Verletzte und Tote berichtet wird,
sowie zahllose öffentliche Erlässe und Anordnungen, in
denen das Spiel verboten wird. Die Anzahl der Spielverbote läßt
ihre Aussichtslosigkeit erkennen. Die "wehrpolitische"
Begründung der Verbote tritt im 14. Jahrhundert in den
Vordergrund: Der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und
England forderte Disziplin und die körperliche Ertüchtigung
der Untertanen zum Bogenschießen.
Die Renaissance bringt den
hauptsächlich aus Landbevölkerung und städtischer
Unterschicht bestehenden Fan-Gruppen akademischen Zuwachs.
Oberschüler, Studenten, Anwälte und Kleriker mischen sich
unter die Mitspieler. Die Universitäten Oxford und Cambridge
wurden Hochburgen des Ur-Fußballs. Die Universitätsleitungen
waren bestrebt, wenn sie das Spiel schon nicht ganz verbieten
konnten, wenigstens Raufereien zu unterbinden. Diese häuften
sich besonders dann, wenn Studenten gegen Dorfmannschaften antraten. Deswegen
wurde den Studenten das Fußball spielen außerhalb der Universität
(versuchsweise) untersagt. Mit dem Aufkommen der Feuerwaffen verlor
das Bogenschießen für die Landesverteidigung an Bedeutung
und das "wehrpolitisch" begründete Verbot war
entkräftet. Leider finden sich nun in den Gerichtsakten rund um
das Spiel auch Schußwunden! Zwei andere Argumente wiegen nun
schwerer: Zum einen gilt dieser Sport nicht als "gentlemanlike"
und zum anderen wittern Puritaner und Presbyterianer die Schändung
der Sonntagsruhe. Doch auch Etikette und Kirche können dem Spiel
nichts anhaben. Ein Chronist schreibt 1698 unbeeindruckt: "Der
Ball ist aus Leder, groß wie ein Kopf und mit Luft gefüllt.
Er wird getragen, oder mit dem Fuß durch die Straßen
getrieben - von demjenigen, der ihn erreichen kann: Weiterer
Kenntnisse bedarf es nicht."
Im 18. Jahrhundert geriet
das Spiel in eine handfeste Krise. In vielen englischen Dörfern
kamen den Spielern zu jener Zeit ihre Spielfelder abhanden. Die
gehörten oft zur sogenannten Allmende: Diese war kein
Privatbesitz, sondern bot jedem Dorfbewohner freien Zutritt und auch
Nutzungsrecht. Solche Grundstücke wurden damals
durch Parlamentsbeschlüsse - die sogenannten "enclosures"
(Einzäunungen) - privatisiert und so der Allgemeinheit
entzogen. Daß bei dieser Auseinandersetzung die von den
Einzäunungen profitierenden adligen Grundbesitzer kein
Verständnis für die Fußballer aufbrachten, ist
nachvollziehbar: Spiele wurden zu Demonstrationen und galten als
aufrührerisch.
Im 19. Jahrhundert
beschleunigte die Industrialisierung auch den Niedergang des
städtischen Fußballs. Raum- und (vor allem) Zeitnot der
Arbeiter ließen keinen Platz für Freizeitbeschäftigung.
Der Fußball verdankt sein Überleben den public schools.
Dort entwickelte sich zu dieser Zeit eine Art Gewaltenteilung: Die
Lehrer übten im Schulbetrieb die Macht aus, die Schüler
besaßen das Gewaltmonopol für die Freizeit! Das galt
besonders für das regellose Fußballspiel. Hier
"herrschten" die älteren über die jüngeren
Schüler. Nur Totschlag schien verboten, um in Ballbesitz zu
kommen.
Ein Direktor der Schule in
Rugby war der erste, der den Regelungsbedarf im Fußball
erkannte. Im Interesse der Schulordnung instrumentalisierte er das
Spiel für seine pädagogischen Absichten und versuchte zwei
Ziele zu erreichen: die Schüler von unmoralischem Zeitvertreib
wie z. B. Trinken, Wetten und Wildern fernzuhalten und ihnen Werte
wie Disziplin und Teamgeist zu vermitteln. Diese Bemühungen
führten 1846 zum ersten Regelwerk: The Laws of Football as
Played at Rugby School. Die "Zivilisierung" des Spiels ging
langsam voran. Noch immer war das Treten ans Schienbein und das
Halten an einem (!) Arm erlaubt. Beides gleichzeitig zu tun, war nun
aber verboten. In einigen Regelwerken war das Tragen des Balles mit
den Händen (anders als in Rugby) verpönt.
Mancherorts war die Hand noch im Spiel.
Die ersten Fußballclubs
wurden gegründet (Sheffield 1855). Das Regelchaos wurde durch
den Ausbau des Schienennetzes immer unüberschaubarer. Die
Eisenbahn machte zunehmend auch Reisen von Fußballmannschaften
möglich. Der bis dato gemeinsame Weg von Rugby und Fußball
ging immer mehr auseinander. Fast jede Fußballclub-Neugründung
war ein Sieg der Anti-Rugby-Liga.
Der 8. Dezember 1863 ist
die Geburtsstunde des modernen Fußballs. Nach zweiwöchigem
Sitzungsmarathon wurden in der Freimaurer-Taverne in London die
ersten 13 Regeln der Football Association verabschiedet. Die
Rugby-Freunde verließen die Sitzung und gründeten ihren
eigenen Verband. Das "handling game" hatte sich vom
"dribbling game" losgesagt. Die Ballberührung mit der
Hand war nun ebenso verboten wie das Tragen von hervorstehenden
Nägeln oder Eisenplatten an den Schuhsohlen! Fußball war
einfach zu spielen und nicht an weichen Rasen gebunden. Weicher Boden
war für das Rugby ebenso unentbehrlich wie reißfeste
Kleidung.
Die Football Association
wuchs rasant: 1871 gab es 50 Clubs, 1888 ca. 1000 und im Jahr 1905
bereits über 10.000. 1871 wurden die Pokalspiele in England
eingeführt. Der Export auf den Kontinent lahmte etwas. Germania
Tempelhof (Berlin) wurde 1888 der erste deutsche Fußballverein.
Das Spiel wurde von vielen Erziehern (Turnvätern) hierzulande
als "Englische Krankheit" gebrandmarkt, weil es ihnen wenig
ertüchtigend und zu wild schien. Das erste Länderspiel
Deutschland-England am 24. November 1899 auf der "Rennbahn am
Kurfürstendamm" ging übrigens mit 2:13 Toren verloren.
Das ehemalige "Hippodrom" ist heute ein Busparkplatz hinter
dem Zoologischen Garten Berlin.
nach: Theo Stemmler: Kleine Geschichte des Fußballspiels, Frankfurt/M 1998
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