Aspekte der Chaostheorie und der fraktalen Geometrie
9. Vortrag der Humboldt-Gesellschaft am 03.05.1995 von Uwe Rehfeld und Stefan Nehrkorn
Die Mandelbrot-Menge (EXTERN)
Das Wort Chaos wird immer mehr zum Gegenstand alltäglicher Diskussionen. Der hier verschriftlichte (ursprünglich audiovisuell gestützte) Vortrag ist ein Versuch, etwas Licht in die Wissenschaft des Chaos zu bringen, wobei er an diejenigen gerichtet ist, die sich -im Namen des in der Überschrift versteckten Tiers- für Laien halten.
Umgangssprachlich wird der Begriff Chaos assoziiert mit Unordnung, Durcheinander, Strukturlosigkeit, Verwirrung, Unregelmäßigkeit und Anarchie. Der griechische Ursprung des Wortes Chaos steht für den mit ungeformtem und unbegrenztem Urstoff gefüllten Raum als Vorstufe des endlichen und wohlgeformten Kosmos. Die heutige Chaosforschung kommt dieser antiken, positiven Auffassung nahe. Sie untersucht Vorgänge, bei denen vormals geordnete Strukturen in chaotische Zustände übergehen -und umgekehrt.
Historischer Exkurs
Seit dem 16. Jahrhundert war die Naturwissenschaft bemüht, die Welt in Zahl, Gesetz und Form (griechischer Geometrie) zu erfassen. Im Laufe der Jahrhunderte setzte sich eine Sichtweise durch, die die Welt mit mechanischen Gesetzen (Newton) -gleich einem Uhrwerk- zu erklären suchte: das mechanische Weltbild entstand. Der Schlüssel zu gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen lag für damalige Forscher im exakten Messen und Skalieren der Beobachtungen. So formuliert der französische Forscher Pierre Simon de Laplace (1749 - 1827):
Würde man die Position und die Bewegung aller Punkte im Universum genau messen können, so könnte man sich den Rest der Ewigkeit ausrechnen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte der Mathematiker und Wissenschaftsphilosoph, Henri Poincaré (1854 - 1912) daß, wenn es ein "Uhrwerk Welt (?)" gäbe, dieses auf komplexere Weise ineinandergreifen müßte als es die Newton�sche Mechanik zu erklären vermag. Poincarés mathematische Bemühungen führten ihn immer wieder an "Abgründe der Unvorhersagbarkeit".
Er schrieb im Jahr 1908:
Eine sehr kleine Ursache, die uns entgehen mag, bewirkt einen beachtlichen Effekt, den wir nicht ignorieren können, und dann sagen wir (als Ausrede), daß dieser Effekt auf Zufall beruht. (Der Begriff des "Zufalls" ist vielschichtig und hat in dem von Poincaré gebrauchten Sinn nichts mit dem quantenmechanisch statistischen Zufallsbegriff gemein.)
Zwei Hauptbereiche der aktuellen Chaosforschung sollen im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung stehen:
1. das auf nichtlineare mathematische Zusammenhänge angewiesene deterministische Chaos (deterministisch: eindeutig zu bestimmen und vorherzusagen, vom Zufall unabhängig)
und
2. die auf Algorithmen basierende fraktale Geometrie (Algorithmen: Verfahren, die bestimmte Schritte in ständiger Wiederholung ausführen).
1. Das deterministische Chaos
An dieser Stelle sollte man erwähnen, daß die heutige Chaostheorie begründenden Rechnungen äußerst umfangreich und zeitintensiv sind. Man kann sagen, daß erst die Rechenkapazität des Computers die Entdeckung vieler chaotischer Vorgänge ermöglichte.
Chaos ist kein "strukturelles Element" des Computers, keine Neuentdeckung des Computerzeitalters. Allein die "Geduld" des Computers ermöglichte es, millionenfach zu wiederholende Berechnungen auszuführen. Dies soll mit dem bestehenden Märchen aufräumen, die Chaostheorie sei nur eine "Computerspielerei". Selbst eine in den nächsten Jahren zu erwartende enorme Zunahme der Rechenkapazität von Computern wird "das Chaos nicht beseitigen können", da es nicht auf den Mangel an Daten zu reduzieren ist, sondern vielen dynamischen Systemen innewohnt.
Die Wettervorhersage
Eines der wichtigsten heutigen Anwendungsgebiete der Chaosforschung ist die Wettervorhersage. Durch den Zweiten Weltkrieg "angeregt", wurden die Ansprüche an die Genauigkeit von Wettervorhersagen immer höher. Frühe mathematische Modelle zur Wetterbeschreibung mußten aufgrund mangelnder Rechenkapazität immer nur mit einem Bruchteil der zur Verarbeitung bereitstehenden Meßdaten auskommen. Erst der Computer ermöglichte umfangreichere Rechnungen.
1963 unternahm der Mathematiker und Meteorologe Edward Lorenz den Versuch, Wettervorhersagen mit Hilfe von in einen Computer eingespeisten Meßreihen zu machen. Seine Modellvorstellung bestand aus drei deterministischen Differentialgleichungen über Temperatur und Strömung in der Atmosphäre. Da die Berechnungen mehrere Tage dauerten, startete er -nach einer Unterbrechung- mit einem an der dritten Stelle hinter dem Komma (Tausendstel) abgerundeten Wert - an einer zuvor bereits berechneten Stelle der Prognose erneut. Er glaubte, daß eine so kleine Änderung keinen Einfluß auf das Endergebnis haben könne. Schon nach kurzer Rechendauer verliefen die beiden Ergebniskurven vollkommen unterschiedlich: Laut erster Prognose schien die Sonne, die zweite prognostizierte Regen.
Die sensible Abhängigkeit dynamischer Systeme von den Anfangsbedingungen war entdeckt. Lorenz Rechnungen verdichteten sich im Computer zu einem "Bild aller hypothetisch möglichen Wetterzustände", einem sog. seltsamen Attraktor.
Daß sehr kleine Ursachen große Wirkungen haben können, nennt man in der Chaosforschung lyrisch den "Schmetterlingseffekt". Selbst kleinste Veränderungen (wie z.B. die der Luftströmung durch den Flügelschlag eines Schmetterlings) könnten in einer atmosphärischen Kettenreaktion ausreichen, um das Wetter auf der gegenüberliegenden Seite der Erde zu beeinflussen. Die Auswirkungen der Entdeckung des deterministischen Chaos in dynamischen Systemen, die eindeutig bestimmbar und prognostizierbar waren -in denen der Zufall also keine Rolle spielt- waren enorm.
Das Umschlagen von Ordnung in Chaos interessiert auch Klimatologen und Paläoklimatologen. Bei der Untersuchung des GRIP-Bohrkerns im grönländischen Inlandeis drängte sich manchen Forschern die Vermutung auf, daß es selbst im Klima chaotische Elemente des "Umschlagens" gibt. Nicht nur das rasante Tempo mancher Klimaübergänge legt diese Vermutung nahe. Eine somit nur noch mangelhaft mögliche Prognostizierbarkeit läßt menschliche Eingriffe wie die Emission von Kohlendioxid noch bedenklicher erscheinen, da selbst kleinste Veränderungen bereits Auswirkungen haben können. So könnte man ableiten, daß die Chaostheorie zu einem noch verantwortlicheren Umgang mit der Umwelt auffordert.
Versuche mit Pendeln (Doppelpendel und Magnetpendel)
Ein gewisses Maß an Komplexität ist unabdingbar für Chaos. Einem einfachen Pendel, dessen zwei Variablen nur Ort und Geschwindigkeit des Pendelgewichts sind, bleibt nicht anderes übrig, als periodisch zu schwingen und über kurz oder lang einen Zustand der Ruhe zu erreichen. Hängt man dagegen zwei Pendel aneinander (Doppelpendel), so zeigt das System ungeordnete, chaotische Bewegungen. Der Weg des Doppelpendels ist mit den Mitteln der klassischen Physik nicht mehr zu beschreiben.
Ein weiterer Chaosversuch ist das Magnetpendel. Im Feld dreier Magneten bewegt sich eine pendelnde Eisenkugel. Versucht man, die Eisenkugel zweimal von einunddemselben Ausgangspunkt zu starten, möchte man annehmen, daß die Kugel wieder vom selben Magnetfeld wie beim ersten Versuch "eingefangen" wird. Weicht man aber nur minimal ab, so sieht das Ergebnis ganz anders aus. Man trifft auch hier auf die Empfindlichkeit gegenüber kleinen Schwankungen in den Anfangsbedingungen. Graphisch läßt sich das ganze wie folgt erfassen: Jeder Startpunkt wird entsprechend dem Magneten, der die Kugel eingefangen hat, gekennzeichnet. Es ergibt sich ein Muster. Das Raster der Startpunkte kann immer feiner gelegt werden; dementsprechend wird auch das Muster feiner. Zwischen den unterschiedlich gefärbten Bereichen sind allerdings die Grenzlinien unendlich fein und könnten stets aufs neue genauer (aber nie exakt) bestimmt werden (s. Fraktale).
Exkurs: Gedankenexperiment
An dieser Stelle sei noch ein Gedankenexperiment des Chaosforschers Heinz-Otto Peitgen vorgestellt: Ein auf dem Stern Sirius entferntes Wasserstoffatom würde bereits nach zwei Monaten Einfluß auf den Verlauf der Bahn haben, die ein terrestrisches Doppelpendel beschreibt! Doch das heißt nicht, daß sich der Mensch nur noch Zwängen ausgeliefert sieht. Aus dem "Konzert der Einflüsse" suchen sich die evolutiven Mechanismen und der denkende Mensch stets die Elemente des größten Einflusses auf das Leben heraus. Es gibt also keinen Anlaß zur Hoffnungslosigkeit - so Peitgen.
Turbulenzen und Periodenverdopplung
Ein anderes Forschungsfeld, in dem man auf die Chaostheorie trifft, ist die Experimentalphysik und hier im besonderen Turbulenzen in Flüssigkeiten. So beobachtet man beim Erhitzen einer Flüssigkeit, daß sich viele kleinere Bereiche bilden, in denen die Flüssigkeit zirkuliert (Konvektionszellen). Unter Wärmezufuhr vervielfacht sich die Anzahl der Zellen mehrmals: Sie verdoppelt sich ein paar Mal (Periodenverdopplung). Am Ende steht jedoch immer das "Umkippen" ins Chaos. Die Flüssigkeitsteilchen strömen nicht mehr in Konvektionszellen, sondern chaotisch. Dieses Phänomen läßt sich beim Abkühlen umgekehrt beobachten! Ordnung und Chaos bilden demnach zwei Seiten unserer Welt, die in einem dynamischen Zusammenhang stehen und ineinander übergehen können.
Mitchell Feigenbaum ist einer der Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen der Periodenverdopplung in "dynamischen Systemen auf dem Weg ins Chaos" beschäftigen. Das nach ihm benannte Feigenbaumdiagramm zeichnet diesen Weg nach. Er stellte fest, daß die Streckenverhältnisse zwischen den Gabelungspunkten bei unterschiedlichsten Beobachtungen immer auf eine Zahl von 4,669... hinausliefen (Feigenbaumzahl). Diese fand er in unterschiedlichsten Bereichen der Wissenschaft wie in der Physik, Chemie und Medizin (z.B. bei Herzrhythmusstörungen) wieder.
2. Die fraktale Geometrie
Die fraktale Geometrie (Fraktal: Objekt, das bei fortgesetzter Vergrößerung immer neue, selbstähnliche Details zeigt) ist Beschreibung und zugleich mathematisches Modell für vielfältige Formen in Wissenschaften und Natur. Sie ist dabei in erster Linie eine neue Sprache, die jedoch nur mit Hilfe des Computers gesprochen werden kann. Die fraktale Sprache drückt sich in Algorithmen aus, d.h. in Verfahrensregeln und Anweisungen. Diese Algorithmen lassen sich direkt als Bedeutungseinheiten der fraktalen Sprache verstehen. Einer ihrer bekanntesten Verfechter ist Benoit B. Mandelbrot. Die Essenz der Mandelbrotschen Botschaft ist, daß viele natürliche Strukturen wie z.B. Wolken, Gebirge, Küsten oder tektonische Bruchlinien, Blutgefäßsysteme oder Bruchflächen von Materialien und vergleichbaren Strukturen scheinbar uneingeschränkter Komplexität tatsächlich eine geometrische Regelmäßigkeit haben, die sog. Skaleninvarianz. Analysiert man diese Strukturen in unterschiedlichen Größenmaßstäben, so stößt man immer wieder auf die selben Grundelemente z.B. beim Blumenkohl, der sich in immer kleinere aber "selbstähnliche" Rosen zerlegen läßt. Die zentrale Eigenschaft der Fraktale ist ihre ungewöhnliche Dimension (umgangssprachlich: Maß für die Rauhigkeit). Normale topologische Dimensionen wie 1, 2 oder 3 treffen hier nicht zu. Meist ergibt sich für fraktale Objekte (Cantor-Menge, Koch-Kurve, Sierpinski-Dreieck oder Peano-Kurve) eine gebrochene Dimension z.B. 0,631. Dies ist der Grund für die Namengebung, die Mandelbrot in den siebziger Jahren mit Bezug auf das englische Wort für Bruch, fraction, und das lateinische Verb für brechen, frangere, eingeführt hat.
Besonders eindrucksvoll kann dies an einem mathematischen Konstrukt gesehen werden, das Mandelbrot 1980 entdeckt hat und das seitdem als (EXTERN) Mandelbrot-Menge bezeichnet wird. Diese Menge ist ein Paradigma für Ordnung und Chaos. Sie ist die Menge aller Punkte, die auf einer unendlich feinen Grenzlinie liegen. Ihre wohl faszinierendste Eigenschaft ist jedoch, daß sie als Bildlexikon für unendlich viele Algorithmen interpretiert werden kann. Sie ist damit ein fraktaler Bildspeicher von schier unfaßbarer Effizienz und Organisation. Die Mandelbrot-Menge ist definiert als die Menge aller Punkte c in der komplexen Ebene, die (als Kontrollparameter) zu einer zusammenhängenden Julia-Menge gehören. Das heißt, man erhält ein computergraphisches Bild der Mandelbrot-Menge, wenn man für jeden c-Wert, für den die zugehörige Julia-Menge zusammenhängend ist, einen schwarzen Punkt setzt. Die Mandelbrotmenge ist das Maskottchen der Chaosforschung.
Uwe Rehfeld und Stefan Nehrkorn
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