Der Golem

137. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 18.03.02 von Alexander Wöll


Der Golem.
Kommt der erste künstliche Mensch und Roboter aus Prag?

von Alexander Wöll

in: Marek Nekula; Walter Koschmal; Joachim Rogall (Hg.):
Deutsche und Tschechen. Geschichte - Kultur - Politik.
München (Beck) 2001, S. 235-245.



Der Name "Golem" findet sich bereits im Alten Testament (Psalm 139, 16) und bezeichnet im Hebräischen eine "noch ungeformte Masse", was Martin Luther mit dem Wort "unbereitet" übersetzte. In Bezug auf diesen einen Beleg wurde in der talmudischen Aggadah, der Sammlung jüdischer Geschichten und Legenden, golem als etwas Ungeformtes und Unvollendetes definiert. In den talmudischen Kommentaren ist mit dem Wort auch ein "Embryo" gemeint. Der Golem steht in Konkurrenz zu Adam. Adama bezeichnet auf hebräisch "Erde", also ein von der Erde genommenes Wesen, dem durch Gottes Hauch Leben und Sprache verliehen wurde. Im Gegensatz dazu meint golem seit dem 12. Jahrhundert einen stummen, minderwertigen Menschen, der "ohne Zeugungskraft und Trieb zum Weibe" - allein mit Hilfe eines sprachmagischen Rituals - künstlich aus einer noch unberührten Elementar-Erde, die vor aller organischen Schöpfung vorhanden ist, erschaffen wird. Als ungefährlicher Automatenmensch in einer arabisch-antiken Erzähltradition ist der Golem ein dienender Knecht und eine Art geistloser Homunculus, der im Gegensatz zum späteren Frankenstein nicht durch naturwissenschaftliche, sondern durch religiös-rituelle Kräfte belebt wird.

Das zusätzliche Zauberlehrlings-Motiv von der Bedrohung für seinen Schöpfer hat sich in polnischen Versionen der alten Sage entwickelt und ist erstmals in einem Brief belegt, den der christliche Autor Christoph Arnold 1674 schrieb. Die polnischen Juden erschaffen diesem Bericht zufolge einen Golem, indem sie Shem ha-Mephorasch, also den heiligsten Namen Gottes, über der toten Materie im Gebet sprechen. Das belebte Wesen wächst danach von Tag zu Tag. Listig befiehlt Rabbi Elija Ba'al Schem von Chelm (Cholm) dem Wesen, das er schließlich durch die bedrohliche Größe kaum mehr beherrschen kann, seine Schuhe auszuziehen. Dabei entfernt er das Aleph, den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, auf der Stirn des Golem. Das führt allerdings dazu, daß der Rabbi unter der toten zusammenstürzenden Lehmmasse begraben wird. Diese Version findet sich auch in Otto Knoops Sagen und Erzählungen aus der Provinz Posen (1893) und in Juda Bergmanns Legenden der Juden (1919).

Von der polnischen Volkssage aus geht der Stoff in die Belletristik über. 1808 wird durch den Artikel Entstehung der Verlagspoesie von Jakob Grimm die Legende von der Erschaffung des Golem durch richtig kombinierte Buchstaben zur Metapher für die "Wahrheit der rechten Worte" der Volkspoesie im Verhältnis zu den "leeren Worten" der Kunstpoesie und den "toten Buchstaben" der Geschichtsschreibung. Der Text wurde in Achim von Arnims Zeitung für Einsiedler, dem wichtigsten Organ der Heidelberger Romantik, publiziert. Jakob Grimm, Achim von Arnim (Isabella von Aegypten; 1812), Clemens Brentano (Erklärung der sogenannten Golem in der Rabbinischen Kabbala; 1814) und sogar noch später Gottfried Keller (Ein schuldlos Unwahrer; 1882) geht es in ihren Allegorisierungen des Golem-Mythos um die sprachmagische Verklärung des Wortes zur göttlichen Poesie. Bei Arnim wird zudem erstmals der Golem nach dem Abbild eines bestimmten Menschen geformt, was den Stoff mit der Tradition des Doppelgängermotivs und mit dem biblischen Verbot, ein Ebenbild Gottes zu schaffen, verknüpft.

Die Verbindung mit der Erschaffung aus den Buchstaben läßt sich auf drei Berichte aus dem 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Diese Quellen beziehen sich ihrerseits auf das 4. Jahrhundert v. Chr. und auf die beiden Personen Jeremiah und seinen Sohn Ben Sira. Diesen ältesten Belegen zufolge wird der Golem durch Buchstabenkombinationen belebt. Das hebräische Wort für Wahrheit tma wird emeth ausgesprochen und besteht aus den Buchstaben aleph, mem und tav. Auf der Stirn des selbst weder sprachbegabten noch vernünftigen oder fortpflanzungsfähigen Golem steht der göttliche Name JHWH (Jehovah). Durch die Buchstabenverbindung "JHWH elohim emeth" (Gott ist wahr) kann der künstliche Mensch zum Leben erweckt werden. Nach Auslöschung des aleph wird in diesem Satz "wahr" zu "tot" tm; aus emeth wird also meth. Die beiden verbleibenden Buchstaben mem und tav verkünden nun: "Gott ist tot". Der geringste Buchstabe, der am Anfang des hebräischen Alphabets steht und somit nur den Zahlenwert 1 hat, differenziert demnach Hoffnung von Verzweiflung und hilfreiches Wissen von Zerstörung.

Die 1492 aus Spanien vertriebenen jüdischen Sefardim brachten die elitäre, mystische Geheimlehre der Kabbala, deren antik-arabische Denktradition die im slavischen Kulturraum lebenden aschkenasischen Traditionalisten zunächst scharf ablehnten, nach Osteuropa. In dieser esoterisch-spekulativen Kabbala haben die Buchstaben des Alphabets, besonders die des Gottesnamens, eine geheime magische Macht, die der Eingeweihte hervorrufen kann. Diese Vorstellung unterscheidet sich grundlegend von den Haupttendenzen der christlichen Mystik und deren grundsätzlich negativer Deutung der Sprache. Dort verhindern die Buchstaben immer den direkten Einblick in Gottes Weisheit. In der jüdischen Kabbala jedoch wird die göttliche Ordnung der Dinge und der Geschichte nicht in einem Medium wie der Schrift repräsentiert oder symbolisiert. Die Sprache selbst ist unmittelbare Offenbarung und Vollkommenheit. Der gesamte Kosmos wird als eine Textur verstanden, die nicht aus dem Nichts hervorgeht, sondern vorhandene Material- und Buchstabenkombinationen ständig neu verknüpft. Jeder Schöpfungsvorgang ist demnach nichts anderes als eine sprachliche Selbstentfaltung der jenseitigen Gottheit ('En Sof). Alles metaphysische Wissen ist nicht "hinter" der Sprache, sondern "in" der Sprache zu suchen. 221 im Sefer Jesira (Das Buch der Formbildung) festgelegte Alphabetkombinationen mit Schöpfungskraft werden je mit den Konsonanten des göttlichen Tetragramms JHWH verbunden, und auch diese Konsonantengruppen werden wiederum der Reihe nach in allen möglichen Vokalisierungen mit den fünf Hauptvokalen a, e, i, o und u zusammengebracht. Die kabbalistische Praxis besteht also einerseits aus einem magischen und andererseits aus einem meditationsartigen Rezitieren nach strikten Regeln, was hebräisch "Zirufe Otijot" genannt wird. Die Buchstaben sollen alle so schnell nacheinander deklamiert werden, daß durch den Atemrhythmus Berauschung und Inspiration entsteht. Im 12. und 13. Jahrhundert ist demnach die Golemschöpfung ein Ritual, das zur Ekstase führt und eine geistige Wiedergeburt in der Sprache symbolisiert - noch ohne praktischen "Zweck" und ohne das Motiv des magischen Knechtes oder Famulus.

Auch die Prager Legende vom Golem geht auf das mystische Traktat Sefer Jezira über die Schöpferkraft durch "Verwandlungen" der Buchstaben zurück, das wohl zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert n. Chr. verfaßt wurde und dessen Autor wahrscheinlich ein jüdischer Neupythagoräer war, der pansophische Visionen von einem harmonisch geordneten Universum hatte. Ein hebräischer Kommentar des Eleasar von Worms greift diese Golemlegende im 12. Jahrhundert auf. Die Zahlenmystik der Schöpfungsharmonie samt ihrem Äquivalent im hebräischen Alphabet begründete die "Kabbala", die wörtlich übersetzt "Tradition" bzw. "Empfangen" heißt. Während die 11 Vokale als männlich und formgebend gelten, sind die Konsonanten als weiblicher Stoff, wörtlich golem (slwg) bestimmt. Nach dem Muster der theosophischen Kabbala ist alles Seiende als eine Symbolik der 10 göttlichen Namen und Präsenzformen zu verstehen, die als Sefirot (Sphären, Intelligenzen) bezeichnet werden und aus dem vollkommenen, göttlichen Einen als ein triadig gestaltetes System von 10 körperlosen geistigen Kräften hervorgehen. Eine Lektüre dieser kabbalistischen Textur, die hinter dem Sichtbaren das jenseitige Geschehen in den zehn Dimensionen dieser Sefirot erkennt, muß diese symbolischen Formen und Urzahlen als verborgene Sinnschicht entziffern. Dem Paradigma der ekstatischen Kabbala zufolge ist die Sprache bzw. ihre Kombinatorik der 22 hebräischen Konsonanten das metaphysische Muster aller Dinge. Das entspricht dem semantischen Gehalt des griechischen Wortes stoicheia, das sowohl Buchstaben als auch Elemente bezeichnet. Jeder Buchstabe "herrscht" über ein Glied des Menschen oder einen Bezirk der äußeren Welt (dem Buchstaben Aleph ist beispielsweise der Rumpf zugeordnet, dem Mem der Bauch, dem Tav der Mund). Die ekstatische Erschaffung eines Golem gilt dem Adepten der Kabbala als Beweis für seine Meisterschaft im Geheimwissen um die Schöpfung. Das jahrelange Studium des Jezira-Buches wurde wohl tatsächlich durch ein mystisches Initiationsritual abgeschlossen. Für diejenigen Juden, die mit Hilfe von Gottesnamen Wunder bewirken, entstand ab dem 11. Jahrhundert die Bezeichnung "Ba'al Schem (Tov)", kurz "Bescht", was übersetzt "Meister des (guten) Namens" heißt. Es gab also mehrere Ba'ale Schem, denen die Herstellung eines Golems zugeschrieben wird.

Wie kam es nun dazu, daß heute in erster Linie die Stadt Prag mit dem magischen Mythos um den Golem in Verbindung gebracht wird? Die polnische Legende um den Rabbi Elija Ba'al Schem von Chelm, der 1583 verstarb, wurde erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf den Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel von Prag (1512-1609) übertragen. Angeblich 1580 habe er ein belebtes Wesen geschaffen, das die jüdische Gemeinde gegen Pogrome schützen sollte. Die fantastische Legende über diesen "MaHaRaL", auf hebräisch "Moreinu ha-Rav Rabbi Liva" (Unser Lehrer, der Rabbi Löw), wurde also erst mehr als 200 Jahre nach seinem Tod um den Prager Golem bereichert, obwohl Löw selbst demonstrativ allen Wunderglauben ablehnte und verurteilte. Der Rabbi hat also wohl niemals zu seinen Lebzeiten einen Golem aus Lehm erschaffen.

Löw wurde vermutlich 1512 in Worms geboren und siedelte wegen Judenverfolgungen mit seinen Eltern und den drei älteren Brüdern nach Polen über. 1553 wurde er Oberrabbiner, Pädagoge, Administrator und Rechtsexperte im mährischen Mikulov (Nikolsburg), bevor er 1573 nach Prag ging. Dort lehrte dieser rationalistische Ethiker und Widersacher praxisferner Gelehrsamkeit von 1573 bis 1582 an der sog. "Klaus", einer von Mordechai Maisel gebauten und privat finanzierten Talmudschule. Seit dem 13. Jahrhundert war diese Schule der Prager Tosafisten, die an der Außen- und Innenseite des Talmudtextes ihre Kommentare beidruckten, den Instituten in Worms, Regensburg und Paris ebenbürtig. Die jüdische Gemeinde Prags wurde immer vom Adel und dem König in deren Konflikten funktionalisiert und von der Auslöschung bedroht. In dieser Situation mußten die Juden zahlreiche pragmatische Kompromisse mit den Christen eingehen. So wurde Löw 1583 nicht zum Oberrabiner Prags gewählt, weil er durch seine radikalkonservativen Meinungsäußerungen und fundamentalistischen Ansichten das jüdische Establishment verärgert hatte. Er ging 1584 in das polnische Poznan (Posen) und lebte dort bis 1597. Erst danach übernahm er als Achtzigjähriger das Prager Amt, das er fast bis zu seinem Tod am 22. August 1609 ein knappes Jahrzehnt lang innehatte.

Laut der Chronik von David Gans wurde Löw 1592 zu einer Konferenz mit Kaiser Rudolf II. geladen, um Rechtsfragen zu klären. Er kam wohl kaum als Finanzberater, politischer Vermittler, Arzt oder gar nur zur Unterhaltung, wie es die Schilderungen in Pascheles Sippurim (Geschichten) der in Jiráseks Alten Böhmischen Sagen suggerieren. Der kinderlose Kaiser, der sich mit Gelehrten wie Georg Hufnagel, Jan Breughel, Tycho Brahe und Johannes Kepler umgab, war wahrscheinlich am kabbalistischen Wissen des Rabbi interessiert. Dieser wandte sich nämlich gegen neue wissenschaftliche Renaissanceideen und verteidigte die kabbalistische Reinheit des Sohar - ein Buch der jüdischen Mystik, das der Bibel und dem Talmud gleichgestellt war. Die Berichte von magischen Beschwörungen vor dem Kaiser sind insofern sicher phantasievolle Bestandteile der späteren Legendenbildung um Mystik und Magie im Rudolfinischen Zeitalter. Auf christlicher Seite entsprechen der Golemlegende ähnliche Mythen um Simon Magus, Albertus Magnus, den hl. Thomas von Aquin und Paracelsus.

Als man 1725 den Grabstein von Löw und seiner Frau Perl, die übrigens 104 Jahre alt wurde, instandsetzte, lebte das Interesse an diesem ungewöhnlichen Lebenslauf mehr als 100 Jahre nach seinem Tod wieder auf. Da Prag im 18. Jahrhundert zum Zentrum der Kabbala geworden war, wurde nun das ganze Leben des Rabbi mythisiert. Die erste gedruckte und somit belegbare Verbindung von Löw mit dem Golem wird 1837 in Berthold Auerbachs Roman Spinoza hergestellt, obgleich es möglicherweise schon lange vorher eine jiddische mündliche Tradition gab. 1841 gibt der Journalist Franz Klutschak diese Version ebenfalls auf deutsch in der Zeitschrift Panorama des Universums wieder. Nach der Chelmer Sagenfassung, aus der diese zweite, nun Prager Überlieferungstradition erwuchs, legt Rabbi Löw dem belebten Wesen aus Lehm täglich ein beruhigendes Amulett in den Mund. Als er dies einmal vergißt, wird der Golem wild und beginnt, die Synagoge zu zerstören. Löw muß den Psalm abbrechen, um den rituellen Beginn des Sabbat hinauszuzögern, und legt dann das Amulett in den Mund des Wesens. Neue Motive sind also das Außer-Kontrolle-Geraten des Golem und die Wiederholbarkeit von Belebung und Entleibung. Dem Volksglauben zufolge wird übrigens deshalb in der Altneusynagoge der Psalm ein zweites Mal wiederholt. Im Gegensatz zu dieser Ruhigstellung legt Löw in späteren Versionen den "Shem ha-Mepho-rasch", also Gottes Namen, gerade zur Belebung in den Mund des Golem und entfernt ihn jeden Sabbat wieder.

Die jüdische Bevölkerung war auf ihrer Wanderschaft durch die meist feindliche Umgebung für alle Varianten dieser nun weit verbreiteten, okkulten Wunderlegende sehr empfänglich. Der zweite gedruckte Beleg findet sich somit schon kurz darauf in den Sippurim (Geschichten), einer Sammlung von Erzählungen um das Ghetto, die der Prager Verleger Wolf Pascheles 1846 ebenfalls auf deutsch und nicht auf hebräisch herausgab. Die Verfasser, die am Beginn der modernen Tradition deutschschreibender jüdischer Autoren stehen, begeisterten sich allerdings bereits für die von Moses Mendelssohn in Berlin begründete jüdische Aufklärung, die Haskala, und erwähnen die Golemlegende deshalb nur noch kurz.

1909 veröffentlichte Judah (Jüdel) Rosenberg anonym in Warschau das 25 Kapitel umfassende Buch Niflaot Maharal im ha-Golem (Der Golem oder Das wundersame Wirken des Rabbi Löw). Rosenberg behauptete, in der Bibliothek von Mainz ein altes Manuskript aus dem Jahre 1583 von Löws Schwiegersohn, Rabbi Isaak Kohen, gefunden zu haben, in dem die "wahre Geschichte" um den Rabbi Löw verzeichnet sei. Im Rahmen dieser Mythologisierung tritt auch der Jesuitenpriester und antisemitische Magier Thaddäus als Löws Erzfeind und Konkurrent auf, der auf kriminelle Art mehrere Ritualmorde an Christen zu inszenieren versucht. In diesem vermeintlichen hebräischen Volksbuch wird der Golem erstmals positiv als Retter des jüdischen Volks dargestellt, wobei die unheimliche Zerstörungskraft aus der Chelmer Traditionslinie unerwähnt bleibt. Diese Volkssage, die eine literarische Fälschung ist, wurde durch Chajim Blochs Übersetzung aus dem Hebräischen Der Prager Golem. Von seiner "Geburt" bis zu seinem "Tod" (1919) breit rezipiert. Oscar Wiener tradierte diesen Mythos in seinen Böhmischen Sagen (1919).

Durch seine Fiktionalisierung der historischen Überlieferung hat Judah Rosenberg für das 20. Jahrhundert einen neuen Volkshelden geschaffen. Die Belebung eines toten Körpers hatte ja Leser von Science fiction und Monster-Literatur schon immer fasziniert. Chajim Bloch überträgt 1920 in seinem Buch Israel der Gotteskämpfer. Der Baalschem von Chelm und sein Golem. Ein ostjüdisches Legendenbuch den Mythos von Prag nach Polen zurück und bekräftigt erneut den Anspruch der Legende auf historische Wahrheit. Er baut den Mythos sogar noch dadurch aus, daß er den Golem als eine sprechfähige und mittels Amulett unsichtbare Gabe Gottes für die verfolgte jüdische Gemeinde interpretiert. Nach wie vor ist aber auch hier der Golem ein gefühlloser, machtvoller Roboter, der keinen freien Willen und keine Sexualität erkennen läßt.

Während Rosenberg und Bloch Sexualität und Gefühle zu thematisieren vermeiden, wird der Golem bei Gustav Meyrink, Halper Leivick und Abraham Rothberg vermenschlicht und als "Doppelgänger" pyschologisiert. Leivicks Dramatisches Poem in 8 Szenen wurde 1921 publiziert und erstmals 1925 in Moskau hebräisch aufgeführt. Die Golemschöpfung wird wie im gefälschten Volksbuch durch die judenfeindlichen Anschläge des christlichen Jesuitenpriesters Thaddäus motiviert. Weil der Golem die Jüdin Devorale begehrt und dadurch seinem alter ego Löw klarmacht, daß sein Geschöpf nicht mehr seinen Befehlen folgt, nimmt der Rabbi - mit einem Gebet und ohne alle kabbalistischen Mysterien - seiner Schöpfung wieder das Leben. Er sieht im vermeintlichen Retter somit am Ende einen "falschen Messias".

Nach Meyrinks Interpretation Der Golem von 1915 tritt das Wesen alle 33 Jahre - jeweils die Lebensspanne Jesu - als eine Art Ahasver am Fenster eines unzugänglichen Zimmers im Prager Ghetto auf. Meyrink selbst, der kein Jude war, lebte seit 1884 in Prag und leitete dort eine Bank. Seine Existenz als Bankdirektor war 1902 allerdings völlig ruiniert. Kaum 1/5 seines in dieser turbulenten Lebenssituation entstandenen Buches handelt von der Figur des Golem. Rabbi Löw wird überhaupt nicht erwähnt. Meyrink entlarvt sich übrigens als in der christlichen Welt sozialisierter Autor, wenn er den Bericht von einem Golem aus vergangenen Tagen einbaut, der beim Läuten der Kirchenglocken helfen mußte. Glocken gibt es bekanntlich in keiner Synagoge. Die Reise der Hauptperson Athanasius Pernath ins eigene Ich endet mit der Inthronisation eines Hermaphroditen, der eine neue Einheit symbolisiert. Im Anklang an den altägyptischen Osiris will Pernath über den Golem-Doppelgänger, den er erstmals im Spiegel des Café Chaos wahrnimmt und dem er den kabbalistischen Namen Habal Garmin gibt, seine verlorene Vergangenheit zurückholen, seine antagonistischen Ichs versöhnen und einen höheren Bewußtseinsstatus erreichen. Schon der Name Pernath deutet auf Pereles, den ersten Chronisten des Rabbi Löw, und auf Pascheles, den Herausgeber der Prager Legendensammlung Sippurim. Zudem wird Pernath zum Doppelgänger des Lustmörders Laponder und des Studenten Charousek. Beide sind - ähnlich wie der Golem - Projektionsflächen seines Unbewußten.

Auch Karel Capek hat sich in seinem 1921 uraufgeführten "utopistischen Kollektivdrama" RUR an der Legende vom Prager Golem orientiert. Durch dieses Schauspiel, dessen Titel eine Abkürzung des Firmennamens Rossum's Universal Robots ist, verbreitete sich das tschechische Wort für körperliche Fronarbeit, nämlich robota, weltweit in dem Wort Roboter. Abraham Rothbergs Roman The Sword of the Golem, der 1970 in den USA erschien, stellt im Anklang an Capek die psychologische wie moralische Frage nach Gewaltbereitschaft und Pazifismus in einer Situation der Bedrohung. Rabbi Löw befürwortet in diesem Text als Talmud-Gelehrter die Seite der Pazifisten und erschafft dennoch den Golem, der auf Befehl töten kann, als Retter der jüdischen Gemeinde. Der aus dem Schlamm der Moldau geformte Golem namens Joseph, der selbst gar nicht erschaffen werden will, wird hier zum Monster, weil er die Liebe nicht erhält, nach der er sich sehnt. Er ist also nicht nur tellurische Macht oder dienender Roboter, sondern verliebt sich als "Mensch" in das Dienstmädchen Kaethe Hoch. Dank seiner Humanisierung bekommt er zunehmend Angst vor dem eigenen Zerstörtwerden und verweigert, nachdem er sich seiner Position als gesellschaftlicher Außenseiter bewußt wird, die gehorsame Ausführung der Befehle.

Konträr zu dieser Vermenschlichung steht der Golem als Knecht in der Tradition der maschinellen Automaten. Dieses Motiv von der Maschine, die besser als ihr menschlicher Schöpfer ist, greifen Stanislaw Lem in seinem Science-Fiction-Roman Golem XIV (1981) und Norbert Wiener in God and Golem, Inc. A Comment on Certain Points where Cybernetics Impinges on Religion (1964) auf. Nicht zuletzt hielt auch der Kabbala-Forscher Gershom Scholem eine Rede bei der Einweihung des Computers Golem No. 1 (Golem Aleph) am Weizmann Institut im amerikanischen Rehovot 1965.

Besonders durch das neue Medium Film hat sich die Legende vom Golem um die ganze Welt verbreitet. Die Filme von Paul Wegener (Der Golem, 1914; Der Golem und die Tänzerin, 1917; Der Golem: Wie er in die Welt kam, 1920), von Julien Duvivier (Le Golem, 1936) und von Martin Fric (Císaruv pekar a pekaruv císar, 1951) sowie die Gedichte von Jorge Luis Borges (El Golem, 1958), John Hollander (Letter to Borges, 1969) und Paul Celan (Einem, der vor der Tür stand, 1964) haben die Prager Legende international bekannt gemacht. Dagegen finden die brillanten Schriften des vermeintlichen Golemschöpfers, nämlich des Rabbi Löw selbst, heute kaum mehr Verbreitung. Besonders der populäre letzte Film von Wegener hat über das neue Medium die Sage nachhaltig verändert, weil der Golem dort ohne Kabbala durch astrologische wie auch chemisch-alchemistische Kenntnisse entsteht. Religiöses Ritual ebenso wie göttliche Inspiration werden ganz durch eine faustische Magie um den Dämon Astaroth ersetzt. Astôret ist der Name einer phönizisch-kanaanäischen Göttin, die als höllischer Geist in den Volksglauben überging und somit eine ganz andere Traditionslinie eröffnet. Der Golem, dessen Leben am Ende ein kleines Mädchen in kindlicher Unschuld beendet, steht expressionistisch für den Willen zur Macht. Der Film vermittelt die Aussage, daß es keinen reinen Funktionalismus ohne zwischenmenschliche Treue, Liebe und Leidenschaft gibt. Dies ist eine Uminterpretation, die den jüdischen Golem ohne Zutun eines Rabbis christlich erlöst, und somit in die alte jüdische Sage eine antisemitisch deutbare Komponente mischt.

Im Gegensatz dazu interessiert Borges, wie das neugeborene Wesen langsam zum Gefangenen der Sprache wird. Die Stummheit des Golem beschämt den Rabbi Löw; so ist auch Gott mit dem Menschen unzufrieden, der keine vollkommen paradiesische Sprach- und Schöpfertätigkeit entwickelte. Hollander hingegen thematisiert als Antwort auf Borges die alten Prager Geschichten, die ihm seine Eltern nachts im amerikanischen Exil zur Beruhigung erzählt hatten. Das Einmalige der mythischen Golemvorstellung als Erinnerung und Familiensaga gewährt in der realen profanen Gegenwart einen Halt. Bei Celan wiederum soll der Rabbi Löw nach der Offenbarung des geheimen, höheren Wortes die vorhandene sprachliche Weltordnung zerstören und einen neuen "heilbringenden Spruch" erschaffen. Auch wenn das Motiv vom Golem nicht immer explizit erwähnt wird, beeinflußt es dennoch bis heute Literatur und Film nachhaltig. Letztlich ist auch Franz Kafkas Odradek aus der Erzählung Die Sorge des Hausvaters (1917) ein modernes, fiktionales, golemartiges Wesen, das aus Buchstabenkombinationen entsteht, immer mächtiger wird, einzig in den Buchstaben fortleben kann und auch nur durch sie zu zerstören wäre. Und auch in dem 1994 von Jan Švankmajer gedrehten Film Lekce Faust (Eine Unterrichtsstunde zu Faust) ist das Geschöpf des Gelehrten beispielsweise weit mehr ein lehmgeformter Golem als der Goethesche Homunkulus.

Die unheimlichen Elemente der Legende, die den Golem bis heute weltweit in Erzählungen weiterleben lassen, wurden oft als unglaubwürdige Phantasien einer überholten Zeit abgeschwächt. In Egon Erwin Kischs ironisch stilisierter Reportage Den Golem wiederzuerwecken (1934) vermischen sich sagenhafte und historische Elemente von Prag, wobei echte und fiktive Quellen kaum mehr eine Unterscheidung von Mythos und Wirklichkeit erlauben. Ein galizischer okkultistischer Jude sucht bei Kisch im Dachboden der Altneusynagoge (jiidisch "Altneuschul"; hebräisch "al-tnaj", d.h. "einstweilig", weil sie angeblich aus den Steinen des vernichteten Tempels zu Jerusalem gebaut wurde, wohin sie nach dem Erscheinen des Messias wieder zurückkehren soll) vergeblich nach den Lehmresten des Golem. Weitere Nachforschungen führen durch eine auf seinem Stadtplan von Prag vorgezeichnete Spur bis auf den Galgenberg, wo der jüngsten Sage nach der tote Lehm begraben wurde. Die Erzählung mündet in die Erkenntnis, daß die ständig wiederholten Wiedererweckungsversuche des Golem am Ende blutleere und verknechtete Fabrikmenschen in Prag hervorgebracht haben und somit schon aus diesem Grund dieses Wesen in Zukunft am besten für immer begraben bleiben sollte. Das letzte Wort über den Golem und seine Beziehung zu der jüdischen Gemeinde in Prag ist aber sicher auch heute noch nicht gesprochen.




Literatur

Glut, Donald: The Frankenstein Legend. A Tribute to Mary Shelley and Boris Karloff. 1973.

Goldsmith, Arnold L.: The Golem Remembered, 1909-1980. Variations of a Jewish Legend. Detroit 1981.

Grimm Jacob: Kleine Schriften. 8 Bde., Berlin 1864-1890, IV, S. 22 (leicht abweichende Fassung).

Grimm, Jacob: Entstehung der Verlagspoesie. In: Zeitschrift für Einsiedler. Hg. V. Achim von Arnim in Gemeinschaft mit Clemens Brentano. Heidelberg 1808 (Nachdruck Stuttgart 1962, Nr. 7, April, S. 56).

Idel, Moshe: Golem. Jewish Magical and Mystical Traditions on the Artificial Anthropoid. Albany 1990.

Mayer, Sigrid: Golem. Die literarische Rezeption eines Stoffes. Bern 1975.

Neher, André: Faust et le Maharal de Prague. Le mythe et le réel. Paris 1987.

Rosenfeld, Beate: Die Golemsage und ihre Verwertung in der deutschen Literatur. Breslau 1934.

Scholem, Gershom: Die Vorstellungen vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen. In: ders.: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt/ M. 1873, 209-260.

Schudt, Johann Jacob: Jüdische Merckwürdigkeiten, 3 Bde. und eine "continuatio". Frankfurt/ M. 1714-1717. Nachdruck Berlin 1922, II, Buch VI/ 31, S. 206f.



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