Die Aufklärung neu denken -
nicht wegdenken

43. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 02.09.1997 von Yehuda Elkana (Vortrag im Wissenschaftskolleg Berlin)

Yehuda Elkana: Anthropologie der Erkenntnis: die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Frankfurt 1986


Es gehört zu den abendländischen Kulturtraditionen, den Fortschritt der Erkenntnis gleichsam als griechisches Drama zu betrachten, das mit unerbittlichem Zwang einer vom Schicksal vorgezeichneten Bahn folgt. Danach gibt es nur eine, nämlich unsere Wissenschaft, und die großen Wahrheiten der Natur wären, wenn nicht von Newton oder Einstein, früher oder später von jemand anderem entdeckt worden.

Elkanas Modell der Wissenschaftsgeschichte orientiert sich dagegen am epischen Theater Brechts. Dessen Motto lautet - in der Formulierung Walter Benjamins - : "Es kann so kommen, aber es kann auch ganz anders kommen." Der Wissenschaftshistoriker kann notwendige, aber eben nicht hinreichende Bedingungen "rekonstruieren". Die Entwicklung des Wissens ist kein Drama einer epistemischen, sondern episches Theater einer listigen Vernunft.


Wissenschaft, das epische Theater

Es gibt zwei alternative Zugänge zur Geschichte: entweder aus der Perspektive des griechischen Dramas oder aus der Sicht des epischen Theaters. Da Theater - gutes Theater - tatsächlich ein Spiegel alles Seienden ist, wird uns eine Analyse dieser beiden Auffassungen von der Welt die beiden allgemeinen Blickwinkel aufzeigen, aus denen Geschichte betrachtet werden kann.

Griechisches Drama ist der Ablauf des Unvermeidlichen. Das Schicksal ist unabwendbar, und der Mensch kann es nur in den kleineren Einzelheiten des Wann und Wo seines eigenen Loses beeinflussen. Die Spannung, die wir im Drama empfinden, wird durch unser Wissen um das Unvermeidliche ausgelöst. Nur unser Gespür für das bevorstehende Verhängnis läßt uns das Kommende fürchten und schafft somit dramatische Spannung. Die tragische Geschichtsauffassung der Griechen besagt, daß künftiges nach vorherbestimmten Gesetzen eintreten wird und wenn dann eine Ereignis eingetreten ist, wird deutlich, daß es nur so und nicht anders hätte geschehen können.

Es ist eine alte abendländische Kulturtradition, den Fortschritt der Erkenntnis - und zwar jeglicher Erkenntnis, auch der wissenschaftlichen - als Gegenstand eines griechischen Dramas zu betrachten. Schon Epikur war sich dessen bewußt und fürchtete die Zwangsjacke der Wissenschaft, als er sagte:

"Es wäre besser, den Mythen der Götter zu folgen, als wie der Physiker ein Sklave des Schicksals zu werden. Die Mythen sagen uns, daß wir hoffen können, die Herzen der Götter zu erweichen, wenn wir sie verehren, während das Schicksal von unerbittlicher Notwendigkeit geprägt ist."

Das Streben nach Freiheit war häufig von einer wissenschaftsfeindlichen Einstellung begleitet. Alfred North Whitehead leitet den Geist der modernen Wissenschaft tatsächlich aus der griechischen Tragödie ab, wenn er schreibt:

"Die Wegbereiter der wissenschaftlichen Phantasie, wie sie heute existiert, sind die großen Tragödiendichter Athens: Aschylus, Sophokles und Euripides. Ihre Vision eines unerbittlichen und gleichgültigen Schicksals, das einen tragischen Vorfall bis zu seinem unausweichlichen Ende treibt, ist genau die Anschauung, von der die Wissenschaft Besitz ergriffen hat. Das Schicksal der griechischen Tragödie wird im modernen Denken zur Ordnung der Natur."

Zur Veranschaulichung dieses Punktes beschrieb Whitehead die Sitzung der Royal Society, auf der der königlich Englische Astronom die Bestätigung der Einsteinschen Voraussagen einer Lichtkrümmung in der Nähe der Sonne bekanntgab:

"Die ganze Atmosphäre gespannten Interesses war haargenau die des griechischen Dramas: Wir waren der Chor, der den Schicksalsbeschluß kommentierte, wie er sich im Höhepunkt der Entwicklung offenbarte. Allein schon die Inszenierung hatte etwas Dramatisches: das altehrwürdige Zeremoniell und im Hintergrund das Bild Newtons, um uns daran zu erinnern, daß die größte aller wissenschaftlichen Verallgemeinerungen jetzt, nach mehr als zwei Jahrhunderten, ihre erste Modifikation erfahren sollte."

Wie anders war da Einsteins eigene Einstellung zu Experimenten! Bereits 1915, nachdem er die allgemeine Relativitätstheorie aufgestellt hatte, antwortete er auf die Frage, ob er sich Sorgen über das Ergebnis der Berechnungen gemacht habe:

"Solche Fragen lagen nicht auf meinem Weg. Das Ergebnis konnte nicht anders als richtig sein. Ich war nur darum besorgt, die Antwort in eine klare Form zu bringen. Ich habe keine Sekunde daran gezweifelt, daß es mit der Beobachtung übereinstimmen würde. Es hatte keinen Sinn, sich über das Selbstverständliche aufzuregen."

Aber "das Wesen der dramatischen Tragödie (liegt) nicht im Unglück" sondern vielmehr im feierlichen" Ernst des unerbittlichen Wirkens der Dinge" - in "der Unentrinnbarkeit des Schicksals". Eine solche Einstellung zur Wissenschaft führt uns, wie gesagt, zu dem Glauben, daß es nur unsere Wissenschaft zu entdecken gebe; daß die großen Wahrheiten der Natur, wenn sie nicht von einem Newton oder Einstein entdeckt worden wären, früher oder später von jemand anderem ergründet worden wären; daß es im Gegensatz zu Religion, Kunst, Musik oder politischer Ideologie nicht so etwas wie eine "vergleichende Wissenschaft" zwischen verschiedenen Kulturen gibt und daß jeder Versuch, sie zu schaffen, bedeutungslos bliebe; daß die zeitliche Entfaltung unseres Wissens von der Welt zwar ein unendlicher Prozeß sein mag, aber trotzdem bestimmt und unausweichlich sei.

Das epische Theater ist da ganz anders. Die Idee des epischen Theaters ist von Walter Benjamin und Bertolt Brecht - unabhängig voneinander - entwickelt worden, und seine wichtigste historische These besagt, in Benjamins Formulierung ganz einfach - aber im krassen Gegensatz zum griechischen Drama: "Es kann so kommen, aber es kann auch ganz anders kommen." Die historische Frage lautet somit nicht " Welches waren die notwendigen und hinreichenden Voraussetzungen für ein eingetretenes Ereignis ?", sondern "Welches waren die notwendigen Voraussetzungen dafür, daß die Dinge so geschehen sind, obwohl sie auch anders hätten geschehen können ?".

Eine derartige Sicht ist sehr undramatisch. Während es typisch für das chinesische Theater ist, "das auf der Bühne Gezeigte unsensationell zu machen", steht eine solche Auffassung in direktem Gegensatz zur griechischen Kultur. Wie schon Platon erkannte und andere nach ihm wiederholt behauptet haben, ist die höchste Form des Menschen, der Weise, von sehr unsensationeller Natur. Der Weise ist keine stoische Figur, die gelernt hat, die eigene Verstrickung in das "Momentane und Persönliche" (in Einsteins Worten) zu überwinden, sondern jemand, der darüber völlig erhaben ist.

Einstein war kein Stoiker, und er vertrat auch nicht die tragische Wissenschaftssauffassung der Griechen. Seine Welt war die des epischen Theaters: Die Welt der Realität läuft nun einmal so ab, wie sie eben abläuft. Die Zukunft ist immer unvoraussehbar, und jedes Ereignis, das eingetreten ist, hätte auch anders geschehen können, wenn die Realität anders gewesen wäre. Dasselbe galt im ethischen Bereich. Im Gegensatz zu Seneca, für den "die Gottheit alle Dinge durch ein unerforschliches Gesetz des Schicksals bestimmt hat, das sie selbst erlassen hat, aber auch selbst befolgte", entschied sich Einstein für einen frei gewählten Moralkodex, in Analogie zu den großen vereinheitlichenden Theorien des Universums. So auch in der Musik. Einstein sagte häufig, daß er eine Abneigung gegen Beethovens höchst dramatische Orchesterwerke empfinde. Er liebte die architektonische Majestät Bachs, aber am nächsten war er Mozart. Dort schufen die Symmetrie, die grundlegende Einfachheit, die rationale "innere Vollkommenheit" eine epische Distanz sowohl vom Dramatischen als auch vom "Nur-Persönlichen".

Einstein ist nicht die einzige Ausnahme vom allgemeinen Trend. Auch Francis Bacon war solch eine Ausnahme. Sein dialogischer Realismus, seine Ansichten über Lernen und Kreativität, die Analogie zwischen juristischem und wissenschaftlichem Argumentieren weisen darauf hin, daß Bacon sich der listigen Vernunft bei der wissenschaftlichen Entdeckung und der epischen Natur wissenschaftlicher Erkenntnis bewußt war. Bacons Lernpsychologie läßt diesen Ansatz erkennen. Er schrieb:

"Auf Wachstafeln kann man nichts Neues schreiben, ehe man nicht das Alte ausgewischt hat. Aber mit dem Geist ist es nicht so; dort kann man das Alte nicht auslöschen, ehe man nicht das Neue hineingeschrieben hat."

Bacon sagt hier etwas, das ich voll unterstützen möchte: Entgegen der herrschenden Auffassung besteht Lehren nicht darin, daß man Wissen aus einer vollen in eine leere Flasche gießt. Ein Problem oder eine Frage verstehen heißt bereits, ein Spektrum möglicher Antworten parat zu haben und damit viele logisch mögliche Lösungen bereits auszuschließen. In anderen Worten, es tritt nie eine Situation ein, in der der Schüler - gleich welchen Alters - nicht bereits eine Ansicht über das betreffende Thema hätte. Der Lehrer hat nur die Aufgabe, zu beweisen oder zu argumentieren, daß seine Version, Information oder Theorie die richtige oder zumindest bessere ist und die bisherige ersetzen sollte. Und was den Geist angeht - da wird das Alte erst verschwinden, nachdem das Neue hineingeschrieben ist. (Wie vorstehend erwähnt, ist dies genau die Meinung der psychologischen Schule von Alexander Luria, L. S. Vygotsky oder von Jerome Bruner und Michael Cole.)

Im epischen Theater lautet die einzig historisch sinnvolle Frage: Warum ist es so gekommen, wo es doch auch anders hätte kommen können? Dieser Auffassung zufolge hätte sich die Wissenschaft anders entwickelt können. Andere Entdecker hätten andere Naturgesetze entdecken können. Es liegt nichts Zwangsläufiges in der Einzigartigkeit der westlichen Wissenschaft. Eine vergleichende Wissenschaft zwischen verschiedenen Kulturen ist sinnvoll. Aus der Geschichte lassen sich Lehren für die Zukunft ziehen. Alles in allem ist dies eine optimistische Auffassung.

Alle idealistischen Haltungen, ob sie nun dem Reduktionismus, Positivismus oder Behaviorismus zuneigen, teilen die dramatische griechische Auffassung von der Wissenschaft. Demgegenüber identifiziere ich mich voll und ganz mit der historischen Einstellung des epischen Theaters, und diese Weltsicht liegt auch dem vorliegenden Werk zugrunde. (...)

(aus: Yehuda Elkana: Anthropologie der Erkenntnis: die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Frankfurt 1986, Kap. 11, S. 118 ff)


Einleitung

Die traditionellen Hauptbeschäftigungen der Wissenschaftsphilosophie waren: Rechtfertigung oder Widerlegung wissenschaftlicher Ergebnisse; kritische Untersuchung der Methodologie; Suche nach der Wahrheit, wobei Gewißheit verlangt wurde; Suche nach Absolutem und Universalem; Ausschaltung des "nur" Psychologischen oder "nur" Soziologischen. Vernunft in der Wissenschaftsphilosophie war epistemische Vernunft.

Die Wissenschaftsgeschichte, die sich jahrzehntelang in einem historiographischen Unruhezustand befand, beschäftigte sich hauptsächlich mit der Geschichte der abendländischen Naturwissenschaft und insbesondere (wenn auch nicht ausschließlich) mit deren Erfolgen; sie war entweder eine marxistische Analyse von Ideen im Gefolge von sozio-ökonomischen Bedürfnissen oder eine Geschichte losgelöster Ideen. Letztere ging davon aus, daß Ideen nur aus Ideen erwüchsen und daß eine einmal gefaßte Idee von einem "externen" Faktor wie der Gesellschaft mit ihrer politischen Ideologie und ihren technischen Bedürfnissen aufgenommen oder fallengelassen, gebraucht oder mißbraucht werden könne.

Die Wissenschaftssoziologie versuchte, die Wissenschaft als eine Tätigkeit zu untersuchen, und setzte dabei häufig voraus, daß die wissenschaftliche Gemeinschaft sie durchaus objektiv studieren könne - ebenso wie etwa Religion oder Arbeit -, ohne ein tieferes Verständnis davon zu besitzen, was die Wissenschaftler eigentlich tun. Man konnte beinahe den Eindruck gewinnen, als wären die wissenschaftlichen Einrichtungen und deren Aufbau unabhängig von ihrem Inhalt

Alle drei Bereiche (Philosophie, Geschichte und Soziologie der Wissenschaft) gehören jedoch zur westlichen Kultur. Demgegenüber konzentriert sich die Anthropologie traditionell auf andere Kulturen und deren verschiedene Dimensionen - zu denen die Wissenschaft kaum je gerechnet wird. In der vergleichenden Anthropologie fragt man danach, ob es eine Kluft (Gellners "tiefer Graben") zwischen westlichen und nichtwestlichen Denkweisen, zwischen wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem Denken gebe und ob alle Kulturen im gleichen Ausmaß "rational" seien. Vergleichende Studien über Kunst, Religion, Ethik, Politik gibt es in Fülle; aber es gibt keine Disziplin mit der Bezeichnung "vergleichende Wissenschaft".

Die kognitive Psychologie war bestrebt, den Menschen als solchen und nicht innerhalb einer bestimmten Kultur zu studieren. Gemeinsam mit der Anthropologie ging sie davon aus, daß sich das universal Menschliche aus dem Dschungel kultureller Verschiedenheiten herausfiltern (oder sozusagen von ihm "abstrahieren") lasse. Die diversen Theorien über die Entwicklung in Stadien - gemäß Piaget oder Kohlberg im moralischen Bereich oder Eriksons psychoanalytischen Untersuchungen folgend - akzeptieren alle einige universale Merkmale des Geistes, die allem Menschlichen zugrunde liegen sollen.

Trotz der eindrucksvollen Erfolge in diesen verschiedenen Forschungsbereichen macht sich wachsende Unzufriedenheit mit den Gesamtergebnissen bemerkbar. Sie läßt sich am besten an einigen neuen Beschäftigungen ablesen, die all diesen Disziplinen gemeinsam sind. Die Grundauseinandersetzung zwischen Realismus und Relativismus wird in Geschichte und Wissenschaftsphilosophie ebenso geführt wie in Anthropologie und Psychologie. Die Untersuchungen von Gelehrten wie Robin Horton, Ernest Gellner, Peter Winch, lan Jarvie, Joseph Agassi, Mary Douglas und vieler anderer beschäftigen sich ebensosehr mit Anthropologie wie mit Geschichte oder Philosophie der (Natur-)Wissenschaft. "Realistische" Wissenschaftsphilosophen wie Hilary Putnam oder Mary Hesse schenken der Anthropologie und Psychologie zunehmende Beachtung. Die Bedeutung von Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen liegt gerade in der Verbindung von Wissenschaftssoziologie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie. Das sich daraus ergebende intellektuelle Durcheinander war und ist unerläßlich, aber noch nicht erhellend. All diese wichtigen Unternehmungen gehen von einigen gemeinsamen Voraussetzungen aus, die meines Erachtens notwendigerweise einen echten Durchbruch verhindern. Diese Voraussetzungen lauten:

(1) Eine Wahl zwischen Realismus und Relativismus ist unvermeidbar.
(2) Sobald einmal für alle Menschen gültige Universalien gefunden sind, lassen sie sich vom kulturellen "Geräusch" abstrahieren.
(3) Alle Vernunft ist epistemisch.
(4) Sobald wir soziologische Einflüsse auf die Ideengeschichte eingestehen, müssen wir die Hoffnung auf eine rationale Erklärung großer historischer Veränderungen aufgeben.

Ich akzeptiere keine dieser vier Voraussetzungen. Vielmehr möchte ich ihnen andere, häufig widersprechende entgegenstellen, die verschiedenen theoretischen Ansätzen in Psychologie und Anthropologie zugrundeliegen, aber bisher noch nicht systematisch mit Geschichte, Philosophie und Soziologie der Wissenschaft in Verbindung gebracht worden sind. Meine Gegenthesen werden auf diejenigen Bereiche und Theorien in Anthropologie, Psychologie und Geschichte verweisen, auf die ich meine Argumente zu gründen gedenke. Ich möchte also die folgenden Behauptungen aufstellen:

(1a) Realismus und Relativismus werden von den meisten Menschen in den meisten Fragen gleichzeitig vertreten (zweistufiges Denken).
(2a) Die Suche nach Universalien, die für alle Menschen unabhängig von einem kulturellen Kontext gültig sind, ist sinnlos.
(3a) Es gibt mindestens eine weitere Art der Vernunft, nämlich die metische (listige) Vernunft.
(4a) Wenn wir auch erkennen müssen, daß sich keine notwendigen und hinreichenden Bedingungen für historischen Wandel finden lassen, können wir doch die notwendigen Bedingungen für einen Wandel rational analysieren. Dazu ist die Einsicht erforderlich, daß alles Wissen den Regeln des epischen und des dramatischen Theaters folgt.

Auf der Basis dieser Voraussetzungen können wir behaupten, daß das typische Bestreben der Geschichtswissenschaft, verschiedene Zeitabschnitte in unserer eigenen westlichen Kultur zu verstehen, die typisch anthropologische Aufgabe, andere Kulturen zu verstehen, und das Ziel der Psychologen, die unterschiedlichen Stadien kognitiver, moralischer und emotionaler Entwicklungen zu verstehen, alle im Grunde genommen auf dieselbe Frage hinauslaufen und mit dem Mittel der Übersetzung angegangen werden müssen.


Warnung

Wenn man Ansichten wie die meinigen äußert und die anerkannte Wahrheit epistemischer Vernunft leugnet oder wenn man von vergleichendem Studium von Kulturen oder gar vergleichender Wissenschaft spricht, ist man augenblicklich den Angriffen der liberalen Mitte ausgesetzt, man habe sich "heutigen Neigungen zu einem mystischen Obskurantismus, einem anti-intellektuellen Intuitionismus oder einem anti-wissenschaftlichen Humanismus" angeschlossen. Und um dieses relevante Zitat fortzuführen: "In Wirklichkeit sind diese Einstellungen Cassirer ebenso fremd wie meiner eigenen skeptischen, analytischen, konstruktivistischen Orientierung."

(1a) Weiter unten werde ich eingehender darlegen, daß wir uns in den meisten Fragen relativistisch einen Bezugsrahmen wählen, und zwar im vollen Bewußtsein der Tatsache, daß wir die Richtigkeit der Wahl nicht beweisen können und einsehen, daß wir auch eine andere Wahl hätten treffen können. Sobald die Wahl jedoch getroffen ist, beziehen wir uns auf den gewählten Rahmen und betrachten ihn als realistisch. Diese beiden Haltungen oder Ansichten werden gleichzeitig vertreten; das ist zweistufiges Denken. Zur Veranschaulichung: Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß wir nicht "beweisen" können, daß unsere religiöse Anschauung die richtige ist, daß unsere ethischen Maßstäbe die generell gültigen sind, daß unsere Medizin die richtige, Zauber- oder Hopi-Medizin aber reiner Aberglauben ist, daß es keine absolute dritte Sprache gibt, in deren Rahmen die Richtigkeit einer Übersetzung im Vergleich zum Originaltext festgestellt werden könnte; und doch leben wir mit unserer Religion, Ethik, Medizin, Physik oder Übersetzungsweise so, als wären sie "Absoluta". Wir sprechen sogar gleichzeitig zwei verschiedene Sprachen - die des Relativismus und die des Realismus.

(2 a) Die universalistische kognitive Psychologie, Psychoanalyse und vergleichende Anthropologie macht langsam dem kontextorientierten Ansatz von Michael Cole, Jerome Bruner und den "wiederentdeckten" und übersetzten Werken von Alexander Luria und Lev Vygotsky Platze Im Gegensatz zu der festverwurzelten Auffassung von Reiz und Reizbeantwortung gehen sie von der Voraussetzung aus, daß alle Veränderungen, die der Mensch in seine Umgebung einführt - und diese Umgebung schließt die verschiedenen kulturellen Kontexte ein -, sein späteres Verhalten beeinflussen. Somit kann kein Verhalten vom Kontext abstrahiert und in universalistischen Begriffen betrachtet werden. Ein solcher Ansatz unterhöhlt die jahrhundertealte Descartes-Locke-Debatte um die Frage, ob der Mensch bei seiner Geburt über angeborene Ideen verfüge oder einer tabula rasa gleiche, auf die nur Einflüsse von außen her einwirken. Diese Dichotomie wird gegenstandslos, denn was immer ursprünglich auch dagewesen sein mag, kann und wird nie vom Kontext abstrahierbar sein. (Der Grund dafür, daß ich Locke und nicht Bacon erwähnt habe, liegt darin, daß nur die Bacon im 19. Jahrhundert widerfahrene Vulgarisierung einen rein extemalistischen Ansatz darstellt. In Wirklichkeit war Bacon ebenso von einer Wechselwirkung überzeugt wie Cole oder Vygotsky.)

(3 a) Wissenschaftliche Disziplinen sind traditionell in Begriffen epistemischer Vernunft formuliert worden und werden dies auch weiterhin sein: Sie argumentieren logisch-deduktiv, sind objektivistisch und behaupten die Irrelevanz subjektiver oder persönlicher Merkmale, Neigungen oder Ansichten des Lesers/Zuhörers wie des Autors/Dozenten. Überzeugung, Bestechung, Täuschung, Illusion, Manipulation werden bei diesem Prozeß nicht erwähnt, es sei denn als Beispiele für Vernunfthindernisse, die es zu beseitigen gilt. Die klassische Rhetorik oder das juristische Vorgehen zur Überzeugung des anderen werden durch die Annahme ersetzt, »die Wahrheit sei offenkundige Da es ziemlich klar ist, daß wir nicht genau wissen, wie Entdeckungen gemacht werden, hat man die Unterscheidung zwischen dem Kontext der Entdeckung und dem Kontext der Rechtfertigung eingeführt. Der Kontext der Rechtfertigung wird in der Sprache der epistemischen Vernunft behandelt, während man den Kontext der Entdeckung als irrational abgeschrieben hat; bestenfalls ist er damit eine Frage der Psychologie, aber nicht der Logik oder Geschichte. Doch wir wissen aus historischen Untersuchungen der griechischen Literatur sowie aus Studien über die Rhetorik der Klassik und Renaissance, daß es auch eine metische (listige) Vernunft gibt, eine Vernunft also, die die Einstellungen oder Annahmen und die individuelle Geschichte des Zuhörers/Lesers berücksichtigt und ihre Argumente so wählt, daß sie ihn zu überzeugen vermag. Diese Art von Vernunft tritt bei juristischen Verhandlungen und in der Wissenschaft beim Entdeckungsvorgang in Aktion.

(4a) Wenn Wissen als prädeterminiert betrachtet wird, wenn die Wissenschaft sich also nur so entwickeln konnte, wie sie es getan hat, wenn das Leben wie ein echtes griechisches Drama abläuft - als Ablauf des Unvermeidlichen -, dann lautet unsere historische Frage: "Wie hat das, was geschehen mußte, stattgefunden ?" Das heißt, wir halten nach notwendigen und hinreichenden Bedingungen Ausschau. Wenn wir jedoch andererseits davon ausgehen - wie ich es tue -, daß alles geschehen kann, daß alles, was eingetreten ist, auch anders hätte kommen können (episches Theater), dann richtet sich unsere historische Suche höchstens auf notwendige Bedingungen: "Warum ist es so gekommen, obwohl es auch anders hätte kommen können ?" (...)

(aus: Yehuda Elkana: Anthropologie der Erkenntnis: die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Frankfurt 1986, S. 11 ff)




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