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Robert Musil. Ein Mann ohne Eigenschaften?

139. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 15.04.02 von Dr. Christoph Hönig (Gastvortrag)


Meine These lautet:
"Der Mann ohne Eigenschaften" ist ein
ironischer und zugleich utopischer Roman.



1. Heute vor 60 Jahren starb Robert Musil während des Zweiten Weltkriegs vereinsamt und verarmt in Genf. Seine Frau streute die Asche in die Rhone. Es gibt kein Grab. - Musils Hauptwerk, "Der Mann ohne Eigenschaften", ist mit über zweitausend Seiten dicker als die Bibel. Übrigens auch Thomas Manns Roman "Joseph und seine Brüder" ist ein episches Werk "von unmodisch langem Atem" (T. M.) und umfasst ebenfalls über zweitausend Seiten. Der Romanzyklus von Proust "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" bietet gar das Doppelte: über viertausend Seiten. - Musils Jahrhundertroman gehört zur Weltliteratur, aber er wird wohl zu wenig gelesen. Denn dazu gehört etwas Mut wie zum Entschluss zu einer Weltreise. Aber es lohnt sich für Menschen, die das geistige Abenteuer lieben und suchen.

2. Wer war Robert Musil? Geboren wurde er 1880 in Klagenfurt. Zur gleichen Generation gehören Thomas Mann (1875), Hermann Hesse (1877), Franz Kafka (1883), Hermann Broch (1886). - Musil stammte aus einer altösterreichischen Beamten-, Gelehrten-, Ingenieurs- und Offiziersfamilie. Er studierte an der Technischen Militärakademie Wien, brach seine Offiziersausbildung ab und wurde Maschinenbauingenieur. Nach einer Tätigkeit als Assistent an der TH Stuttgart studierte er 1903-08 in Berlin Philosophie, Mathematik, Physik und experimentelle Psychologie und promovierte mit einer erkenntnistheoretischen Dissertation über Ernst Mach zum Dr. phil. Im Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" werden aus diesem etwas sprunghaften und vielfältigen Werdegang des Autors Ulrichs "drei Versuche, ein bedeutender Mann zu werden" (S. 37 ff.): zuerst Leutnant, dann Ingenieur und schließlich - als "der wichtigste Versuch" - Mathematiker und Naturwissenschaftler. Musil selbst verzichtete auf eine Universitätslaufbahn, um freier Schriftsteller zu werden. 1911-14 war er Bibliothekar, 1914 Redakteur der "Neuen Rundschau". Im Ersten Weltkrieg war er Landsturmhauptmann an der italienischen Front, Herausgeber der "Soldatenzeitung" und zuletzt im Kriegspressequartier. 1918-22 lebte er als Beamter in Wien, danach arbeitete er als freier Schriftsteller, Theaterkritiker und Essayist in Wien und Berlin. Nach dem "Anschluss" Österreichs emigrierte er nach Zürich. Die letzten Lebensjahre verbrachte er mittellos in Genf, bis zuletzt an seinem unvollendeten Lebenswerk arbeitend. - Musil war ein Wienhasser und hat etwa neun Jahre in Berlin gelebt. Hier hat er Philosophie und Psychologie studiert und promoviert. Etwa drei Jahre hat er am Kurfürstendamm gewohnt und hier am "Mann ohne Eigenschaften" gearbeitet. (Eine Tafel an der Wand des Astorkinos weist darauf hin.)

3. 1906 erscheint in Berlin sein erster Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß". An der von der Kritik bewunderten realistischen Psychologie dieser Pubertätsstudie, einer der ersten dieses Genres (im gleichen Jahr erschien Hesses "Unterm Rad"), war ihm wenig gelegen. Die seelischen Verwirrungen und sexuellen Perversionen, die hinter der Fassade eines exklusiven k.u.k. Internats sichtbar werden, dienen Musil als Forschungsmaterial für die sein ganzes Lebenswerk bestimmende Erkenntnis, wie leicht überschreitbar die Grenze zwischen der nur scheinbar soliden rationalen Welt und einer geheimnisvollen irrationalen anderen Welt ist. In der verwirrenden Erfahrung des jungen Törleß liegen beide so nahe beieinander wie die von Zucht und Ordnung geprägte Welt des Konvikts und dessen geheime rote Dachkammer, in der er sich mit den Diktatoren seiner Klasse zu grausamen Experimenten an einem Mitschüler trifft. Dieser Einbruch des Irrationalen deutet voraus auf die kommenden Diktatoren und deren methodische Vergewaltigung des Einzelnen. - 1966 wurde der schmale Roman verfilmt von Schlöndorf.

4. 1911 erscheinen zwei Erzählungen, zusammengefasst unter dem Titel "Vereinigungen". 1921 erscheint sein Schauspiel "Die Schwärmer". Hier werden lockende und extreme Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und einer erweiterten Wirklichkeitserfahrung gestaltet, die auch als ironisches Echo auf den "Seelenlärm" der Expressionisten zu verstehen sind. 1924 veröffentlicht Musil die Novellen "Drei Frauen".

5. 1930 erscheint der l. Band von Robert Musils Hauptwerk, der Jahrhundertroman "Der Mann ohne Eigenschaften". Etwa zur gleichen Zeit erscheinen die berühmten Werke: Döblin: "Berlin Alexanderplatz" (1929), Hesse: "Narziß und Goldmund" (1930), Zuckmayer: "Der Hauptmann von Köpenick" (1931) und Broch: "Die Schlafwandler" (1931). - 1933 veröffentlicht Musil dann den 2. Band des "Mannes ohne Eigenschaften" mit dem Untertitel "Ins Tausendjährige Reich. Die Verbrecher" - eine völlig unbeabsichtigte Provokation im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung! -, 1938 werden alle seine Werke in Deutschland verboten, 1943 veröffentlicht Musils Witwe einen 3. Band in der Schweiz im Selbstverlag, seit 1952 taucht Musil aus der Vergessenheit auf in Frisés Ausgabe der Werke, 1978 erscheint die umfangreichere revidierte Ausgabe mit dem offenen fragmentarischen Teil.

6. Gehen wir gleich medias in res und lesen einmal das 1. Kapitel. Erste Kapitel sind ja oft Expositionen wie im Drama, sie können in nuce den ganzen Roman enthalten. Nur eins vorweg: Musil hat sich nun vorgenommen: "Hell, luftig, einräumend schreiben!" (Zitieren S. 9 ff.)

7. Wer ist Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften? Er ist 32 Jahre alt und erstaunlicherweise "ein Mann mit allen Eigenschaften, aber sie sind ihm gleichgültig" (Kap. 40). Dies ist die erste von zwei Bedeutungen des Titels "Mann ohne Eigenschaften". Aber was bedeutet das genauer? - "Man ist früher mit besserem Gewissen Person gewesen als heute." Denn "es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt." "Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt" (S. 154). Die Eigenschaften, die sich als moderne Beliebigkeit z.B. im Geschreibe der Medien verselbständigt und von der Person gelöst haben, sind dem Helden nur im ironischen Sinne "gleichgültig". In Wirklichkeit, so heißt es, wartete er "hinter seiner Person [...], und seine ruhige, dahinter abgedämmte Verzweiflung stieg mit jedem Tag höher" (S. 264). Darum nimmt sich der 32-Jährige kurz entschlossen "ein Jahr Urlaub vom Leben", um nach einem verantwortbaren Verhältnis zu seinen Eigenschaften zu suchen. Ihm wird klar, "dass nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens" (S. 263). Solch einen Satz, so einen Grundsatz werden Sie bei keinem zeitgenössischen Schriftsteller finden. Das ist allein Musils Denken und Dichten.

8. Wo spielt der Roman? Im Vorkriegs-Österreich, der königlich-kaiserlichen Monarchie, die Musil Kakanien nennt. (Der erfundene Name erinnert übrigens auch an griechisch "kakós" = schlecht, untauglich.) Er beschreibt Kakanien so: Dies war ein "Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz". Eben deshalb ist Kakanien in doppeltem Sinne der "fortgeschrittenste Staat": Weil hier nämlich, in einem "besonders deutlichen Fall der modernen Welt", die Auflösung der Wirklichkeit am weitesten fortgeschritten ist, kann sich hier auch am ehesten ein schöpferischer "Möglichkeitssinn" entfalten, der die Wirklichkeit "als Aufgabe und Erfindung behandelt". - Im Zentrum des 1. Buches steht die sogenannte "Parallelaktion". Unter diesem Decknamen verbergen sich die Vorbereitungen hochgestellter Persönlichkeiten, die das für 1918 zu erwartende 70-jährige Regierungsjubiläum des "Friedenskaisers" Franz Josef gegenüber dem gleichzeitigen bloß 30-jährigen Kaiser Wilhelms II. zum Ausdruck bringen wollen. Ohne dass sie es selbst bemerkten, werden all ihre scheinbar nur komischen Bemühungen um eine "erlösende Idee" in den begeistert begrüßten Ausbruch des Weltkrieges 1914 münden. Und das geplante "Weltösterreichjahr" 1918 wird sich ironischerweise als das des Zusammenbruchs beider Monarchien erweisen.

9. Wer spielt mit? Die Personenkonstellation. Ein ironischer "Zusammenhang der Dinge" zeigt sich in der Parallelität der Bestrebungen aller Personen des Romans. Sie verkörpern in verzerrten Spiegelungen die Versuche Ulrichs, eine sinnvolle Verwendung für seine Eigenschaften, d.h. "das Gesetz des rechten Lebens" zu finden. Nur unter diesem Aspekt sind die scheinbar disparaten Personengruppen miteinander verbunden. Die wichtigsten Figuren außer den Geschwistern Ulrich und Agathe sind Ulrichs Jugendfreunde Walter und dessen von der Erlösungsidee besessene Frau Clarisse, die sich magisch zu dem unzurechnungsfähigen Frauenmörder Moosbrugger und dem "Propheten" Meingast hingezogen fühlt. Hauptfiguren der "Parallelaktion" sind Ulrichs Cousine, die Wiener Salondame Diotima, und Ulrichs "Freundfeind" Arnheim, deren "Seelenroman" ironisch das mystische Liebesabenteuer der Geschwister Ulrich und Agathe spiegelt, sowie Graf Leinsdorf und (als komische Figur) General Stumm. Sodann der Personenkreis um Bankdirektor Fischel mit seiner Tochter Gerda und ihrem völkischen Freund Hans Sepp sowie die beiden Pädagogen Hagauer (Agathes ehemaliger Gatte) und der "Tugut" Lindner.



10. Meine These lautet: "Der Mann ohne Eigenschaften" ist ein ironischer und zugleich utopischer Roman.

- Aber zunächst einmal: Was heißt hier Ironie? Klar: Ironie, die kennt doch jeder. Im situativen Kontext versteht jeder die alltägliche Wendung: "Das hast du ja wieder großartig gemacht." Oder: "Du bist mir ja ein schöner Freund." Das Literaturlexikon erklärt, dass der Ironiker "sich zum Spott der gegnerischen Wertmaßstäbe bedient". Und: "Die Ironie ist der Ausdruck einer Sache durch ein deren Gegenteil bezeichnendes Wort. Sie ist eine Waffe der Parteilichkeit." Berühmtestes Beispiel: "Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann", heißt es in der Rede des Marc Anton in Shakespeares "Julius Caesar". Ich nenne sie die rhetorische Ironie. - Aber in der Literatur gibt es noch eine andere Art der Ironie: die Ironie im höheren Sinne, die Ironie sensu eminentiori, wie Kierkegaard sie in seiner Doktorarbeit nennt. Berühmt geworden ist auch die romantische Ironie als grundsätzlicher ironischer Standpunkt, als Haltung der Welt gegenüber, als Grundkonzeption eines ganzen literarischen Werkes. Bei der Ironie im höheren Sinne darf es sich nicht, wie Jean Paul mit Recht sagt, um "einen bloßen Tauschhandel des Ja gegen das Nein und umgekehrt" handeln. Kierkegaard erklärt: "Die Ironie im strengeren Sinne richtet sich nicht gegen das eine oder andere einzelne Daseiende, sie richtet sich gegen die ganze zu einer gewissen Zeit und unter gewissen Umständen gegebene Wirklichkeit. [...] Nicht diese oder jene Einzelerscheinung, sondern das Ganze des Daseins wird von ihr sub specie ironiae betrachtet." (Diss. S. 14) Musils Jahrhundertroman ist in diesem höheren Sinne ironisch - und nicht, wie manche meinen, satirisch. Warum? Musil spricht im Blick auf seinen "Mann ohne Eigenschaften" in einem "Vermächtnis" ausdrücklich von "konstruktiver Ironie": "Ironie ist: einen Klerikalen so darstellen, dass neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, dass der Autor plötzlich fühlt: das bin ja zum Teil ich selbst. Diese Art Ironie - die konstruktive Ironie - ist im heutigen Deutschland ziemlich unbekannt. Es ist der Zusammenhang der Dinge, aus dem sie nackt hervorgeht. Man hält Ironie [fälschlich] für Spott und Bespötteln." (S. 1645). - Jetzt sollten wir uns das etwas genauer anschauen: Was geht im Prozess der Ironie eigentlich vor sich? Ironie ist in jedem Falle auf die besondere Beteiligung des oder der Adressaten angewiesen. Dazu gehört freilich eine gewisse Intelligenz. Deshalb verstehen z.B. kleine Kinder Ironie überhaupt nicht. Denn der Rezipient muss selbst die Beziehung zwischen dem vordergründig Gesagten und einem entsprechenden Unausgesprochenen herstellen. Musils Ironie stellt also einen hohen Anspruch an den Leser. - Und noch etwas Wesentliches ist im Prozess der höheren Ironie zu beobachten. Das explizit Ausgesprochene ist ganz offenbar nicht gemeint. Das gegenteilige Angespielte darf aber nicht ausgesprochen werden. Das wäre spielverderberisch. Als Beispiel diene ein ironischer Scherz in einem Gedicht von Matthias Claudius. Nachdem der Esel sein trauriges Los detailliert beklagt hat, seufzt er: "Ah, die Natur schuf mich im Grimme! Sie gab mir nichts als eine schöne Stimme." Wer wollte hier erklären, der Esel habe doch bekanntlich eine sehr unschöne Stimme! Das wäre albern, ja unmöglich. Also: Weder das Ausgesprochene noch das Angespielte ist es. Was aber dann? Es ist das Spielfeld dazwischen! (Vergleiche hierzu unsere Lektüre des l. Kapitels des Romans!) Es ist die Energie, die frei wird im Spannungsfeld zwischen den beiden Polen des Ausgesprochenen und des Angespielten. Sie kann sich manchmal auch zeigen in einem Lächeln. Es ist eben "der Zusammenhang der Dinge, aus dem" Musils "konstruktive Ironie" hervorgeht. Hier geht es also um etwas Konstruktives, nicht um eine Satire, nicht einfach um ein satirisches Lächerlichmachen des altösterreichischen Kakanien, wie oberflächliche Interpreten meinen. Der Ironiker Musil ist es, der "an die Überzeugung der Heiligen (und der Ärzte und Ingenieure) glaubt, dass auch in den moralischen Abfällen unausgenützte Heizkraft stecke" (S. 340). Sie wird bei ihm zur Antriebskraft für ein weiterführendes dynamisches Prinzip: die Utopie.

11. Musil nennt sich selbst einen "bewussten Utopisten" (S. 16). Aber was ist Utopie? Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Wort Utopie heute gewöhnlich abwertend im Sinne von "Schwärmerei, Hirngespinst" gebraucht. So steht es jedenfalls im Duden. Andererseits ist der Begriff Utopie besonders durch Ernst Bloch und sein Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung" gewaltig aufgewertet worden. Und seit einiger Zeit, mit dem Zusammenbruch des Sozialismus, ist es freilich dann wieder abgewertet worden. - In der literarischen Gestaltung ist Utopie die Darstellung einer hier und jetzt noch nicht oder nicht mehr realisierten idealen Wirklichkeit. Sie ist fiktive Vorwegnahme oder Wiederherstellung dessen, was sein sollte. Utopie ist also die Projektion einer als vollkommen gedachten Wirklichkeit ins Nirgendwo, das vom Standort einer als verderbt durchschauten Gegenwart aus in einer helleren Zukunft oder in einer verklärten Vergangenheit gesucht wird. Will man sich dessen, was sein sollte, darstellend oder denkend bemächtigen, muss man es räumlich oder zeitlich vom Hier und Heute wegverlegen in ein Nirgendland, welchen Namen man ihm auch immer geben mag. Denn Utopie ist etwas, wofür es noch nicht oder nicht mehr einen Ort in der gegenwärtigen Wirklichkeit gibt. Utopisches wird darum als Erinnerung aus der Vergangenheit heraufbeschworen oder als Vorwegnahme von Zukünftigem fingiert. So lassen sich zunächst progressive und regressive Utopie unterscheiden. - Als Urmodell eines vollkommenen Weltzustandes gilt für unseren Kulturkreis die alttestamentarische Darstellung eines Paradieses, das vor dem Beginn der eigentlichen Weltgeschichte am Anfang der Zeiten gedacht wird. Für das Ende der Zeiten wird ein neues Paradies, ein zukünftiges Reich Gottes erwartet, auf das zahllose Verheißungen und Sehnsüchte gerichtet sind. Gegenüber dem urzeitlichen und dem endzeitlichen Glückszustand erscheint der gesamte historische Ablauf der Menschheitsgeschichte nur als ein Zwischenstadium, welches - gemessen am Ursprung und Ziel aller Geschichte - als verderbt und sündhaft gilt. - In dieser dreigliedrigen Zeitkonzeption ist der temporale Prototyp utopischen Denkens zu sehen. Cum grano salis findet sich der Gedanke einer solchen triadischen Zeitstruktur des Weltgeschehens bei den Propheten des Alten Testaments, bei Hesiod, Platon, den Kirchenvätern, Joachim von Fiore, bei Thomas Morus, Comte, Lessing, Schiller, Novalis, Kleist, Hegel, Marx und ungezählten anderen, so sehr sich auch deren utopische Geschichtskonzeptionen inhaltlich in religiöser, philosophischer, politischer, gesellschaftlicher oder ästhetischer Hinsicht unterscheiden mögen. Als Beispiel sei nur kurz hingewiesen auf den historischen Materialismus von Marx: Am Anfang steht die eigentumslose kommunistische Urgesellschaft (sozusagen das Paradies). Sie wird durch die Erbsünde des Privateigentums zerstört. Am Ende des Geschichtsprozesses steht dann der Kommunismus (sozusagen das Reich Gottes). - Das durch eine triadische Zeitstruktur geprägte Utopiemodell wird häufig ergänzt oder ersetzt durch ein räumliches Schema der Utopie, das polar angelegt ist und sich etwa im Bilde des Gelobten Landes oder der zahlreichen Insel-Utopien verwirklicht. Das Land der Vollkommenheit hat allerdings, wie es die Wortschöpfung des Thomas Morus treffend zum Ausdruck bringt, keinen Ort in der bekanntlich unvollkommenen Wirklichkeit. Utopia ist daher vom Festland der hiesigen und heutigen Wirklichkeit isoliert und - wenn überhaupt - nur unter Gefahren zu erreichen. - Utopien gab es schon seit jeher. Thomas Morus aber ist der Erfinder des Wortes "Utopie" in seinem berühmten Buch über die "nova insula Utopia" (1516). Die griechische Partikel "ou" heißt "nicht", "topos" heißt "Ort". "Utopie" bedeutet also "Nichtort". Doch im Englischen spricht man die griechische Partikel "eu" = "gut" ebenso aus wie "u" = "nicht". Also ist der gute Ort zugleich der Nichtort. Ein höchst ironisches Wortspiel. Morus selbst ist tatsächlich der erste ironische Utopist (was freilich hier nicht gezeigt werden kann). Und Robert Musil? Er entwirft im "Mann ohne Eigenschaften" mehrere Utopien. Ich skizziere die zwei entscheidenden.

a) Zunächst Musils Utopie des Essayismus. Essay heißt Versuch, und Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, will ein "Leben auf Versuch und Widerruf" führen. Eine Kapitelüberschrift fasst es - mit sanfter Ironie - zusammen: "Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus." (S. 254) Er ist nämlich der Überzeugung, die Gegenwart sei "nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist". (S. 257) Darum nimmt er sich vor, hypothetisch zu leben. "Was sollte er da Besseres tun können, als sich von der Welt freizuhalten, in jenem guten Sinn, den ein Forscher Tatsachen gegenüber bewahrt, die ihn verführen wollen, voreilig an sie zu glauben?" (S. 257). "Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben [...]; ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion, und manchmal sind sie auch einfach Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben." (S. 261) "Wenn es Wirklichkeitssinn gibt", überlegt Ulrich, der sich auf dieses Abenteuer eingelassen hat, "muss es auch Möglichkeitssinn geben." (S. 16) Und das gilt für die Lebenskonzeption des Mannes ohne Eigenschaften wie für Musils Konzeption der Dichtung. "Die Dichtung hat nicht die Aufgabe, das zu schildern, was ist [Realismus], sondern das, was sein soll, oder das, was sein könnte, als eine Teillösung dessen, was sein soll" [Utopismus]. (Tb 810) "Was ist", "was sein könnte", "was sein soll" - in diesen drei kurzen Gliedsätzen ist die Problematik utopischen Denkens und Dichtens zusammengefasst. - In dem Romankapitel, in welchem Ulrich dem Leser vorgestellt wird, berichtet der Autor, der Mann ohne Eigenschaften habe früher einmal in einem Schulaufsatz den "verdächtigen Satz" geschrieben, "dass wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche (hic dixerit quispiam = hier könnte einer einwenden ...), denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein." (S. 19) Allerdings, der Zögling Ulrich "hatte sich vielleicht nicht verständlich genug ausgedrückt, denn es entstand große Aufregung darüber, und man hätte ihn beinahe aus der Schule entfernt [...]." (S. 19) Später heißt es: "Gott meint diese Welt keineswegs wörtlich; sie ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung, deren er sich aus irgendwelchen Gründen bedienen muss, und natürlich immer unzureichend; wir dürfen ihn nicht beim Wort nehmen, wir selbst müssen die Lösung herausbekommen, die er uns aufgibt." (S. 366) Daraus erwächst Musils experimentelles Möglichkeitsdenken: "So wie eine große Versuchsstätte, wo die besten Arten, Mensch zu sein, durchgeprobt und neue entdeckt werden müssten, hatte er sich früher oft das Leben gedacht, wenn es ihm gefallen sollte. Dass das Gesamtlaboratorium etwas planlos arbeitete und dass die Leiter und Theoretiker des Ganzen fehlten, gehörte auf ein anderes Blatt." (S. 156) - Hier zeigt sich, dass Robert Musil in der modernen Literatur einzigartig ist, einer Literatur, die in der 2. Hälfte des 20. Jh.s zunehmend von existenzialistischem Pessimismus und Nihilismus erfüllt ist. Bei Beckett z.B. ist alles "Endspiel". Nirgends ist - wie bei Musil - die Rede vom Mut des "Möglichkeitsmenschen". Eine späte Notiz Musils lautet: "Dem Möglichkeitsmenschen entsprechen, die noch nicht erwachten Absichten Gottes'. - Von Anfang an ist die Beziehung auf Gott also einfach da." (S. 1620) In der Tat: "Dieses Buch ist religiös unter den Voraussetzungen der Ungläubigen." (S. 1645)

b) Musils mystische Utopie eines anderen Zustands. Seine Formel "anderer Zustand" ("a.Z") meint ein "wunderbares Gefühl der Entgrenzung und Grenzenlosigkeit des Äußeren wie des Inneren, das der Liebe und der Mystik gemeinsam ist." (S. 781) Musil hat einen großen Teil seines Lebenswerkes auf die Erforschung dieses "a.Z." verwandt. Dabei gibt es nicht nur Positives zu entdecken, wie sich u.a. in zwei Figuren des Romans zeigt. Die hysterische Ekstatikerin Clarisse will den Erlöser gebären -: Es ist die Zeit, die begierig auf den Heilsbringer wartet. Im Rausch der Massen erstanden dann ja auch in der Tat Führer wie Lenin, Stalin, Hitler ... als Unheilsbringer. - Der Mädchenmörder Moosbrugger erlebt den "a.Z". als Trance beim Morden. - Entscheidend für das Erlebnis des "a.Z." aber ist der Mann ohne Eigenschaften selbst. Dieser Name hat nicht nur die erste, anfangs genannte Bedeutung der ironischen Distanz zu den eigenen Eigenschaften, er hat zweitens auch eine mystische Bedeutung: Die Formel "ohne Eigenschaften" oder auch "weiselos" stammt von Meister Eckart, dem großen deutschen Mystiker. Sie meint den Menschen selbst - ganz rein, als Substanz, ohne Akzidenz, also ohne Eigenschaften. Ist dieser "weiselose" Zustand erreicht, kann die ersehnte unio mystica gelingen. Es gibt eine große abendländische, christliche Tradition der Mystik. Aber heute sind vielen die Begriffe Mystik und Meditation eher von Asien her bekannt, z.B. durch den berühmten Zen-Buddhismus aus Japan. Oder man denkt beim Begriff Mystik leider an die verbreitete Esoterik mit ihrem Mummenschanz. Musil dagegen sucht ausdrücklich eine "taghelle Mystik". Den Weg in den "anderen Zustand" müsse man auch mit einem Lastkraftwagen befahren können ... Im Roman heißt es: "Erreicht man [...] die höchste Selbstlosigkeit, dann berühren sich schließlich Außen und Innen, als wäre ein Keil ausgesprungen, der die Welt geteilt hat." (S. 1171) Dieser Satz, der das All-Einheitserlebnis formuliert, steht in dem Kapitel "Atemzüge eines Sommertags", an dem Musil noch an seinem Todestage schrieb. - Das Einssein mit allem schließt eigentlich jeden anderen Menschen aus - es sei denn eine "Zwillingsschwester". Es ist Agathe, die plötzlich auftaucht und mit der Ulrich ins "Tausendjährige Reich" reist, das "auch das Reich der Liebe genannt" wird (S. 1171) - oder das "Paradies". Aus dieser "Reise an den Rand des Möglichen" (S. 777), der "Reise ins Paradies" möchte ich nun ausführlich zitieren, auch um die Sprachkraft des Dichters Musil hörbar zu machen. Zitat S. 1443 ff.

12. Der Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" ist Fragment geblieben. Musil ist heute vor 60 Jahren bei der Arbeit gestorben. Ob er ihn je hätte vollenden können, ist eine offene Frage. - Kann man diesen Riesen-Roman wirklich lesen? Ja, gewiss: Wenn man auf den Geschmack gekommen ist. Sind Sie nun auf den Geschmack gekommen? Oder habe ich Sie gar abgeschreckt? Ich möchte - nach so vielen Zitaten - mit einem letzten enden, das Robert Musil und seinen Mut zum Möglichkeitssinn in ganz eigener Weise charakterisiert: "Literatur ist ein kühner, logischer kombiniertes Leben. Ein Erzeugen oder Herausanalysieren von Möglichkeiten." (Tb 128) Sie "erhält das Noch-nicht-zu-Ende-Gekommene des Menschen, den Anreiz seiner Entwicklung am Brennen." (Tb 916)


Zitiert nach:

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1957 (zitiert nur mit Seitenangabe.)
Robert Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hamburg 1955 (zitiert mit Tb + Seitenangabe.)