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Interview zur Sloterdijk-Debatte
Nicht erst seit dem Beginn der Sloterdijk-Debatte stehen Fragen der Gentechnik zunehmend im Mittelpunkt gesellschaftlicher Diskussionen. Nach der Skandalisierung der Elmauer Rede hat Peter Sloterdijk seine kontinuierende Sicht auf das Themenfeld Mensch-Technik in zahlreichen Interviews präzisiert und sich damit in eine anregende und sachlich streitbare Position gebracht.
Auszug aus dem TAGESSPIEGEL-Interview vom 08.03.2001
(...)
TSP.: Wie soll man denn darüber reden, ab wann ein Mensch ein Mensch ist?
Sloterdijk: Ich würde lieber das Konzept der Vormundschaft verwenden. Dies ist ein juristisch und psychologisch ausreichender Begriff, der die Vorstellung ausdrückt, dass es zwischen Menschen Verhältnisse gibt, die auch und gerade dann in hohem Maße verpflichtend sind, wenn der eine Pol des Verhältnisses für seine Selbstbehauptung aktuell nicht sorgen kann. Das trifft genau auf die Situation des Kindes zu. Geglücktes menschliches Leben geht aus Vormundschaft hervor. Das erinnert an die unüberwindliche Notwendigkeit der Vormundschaft als Höchstform von Solidarität, auch wenn man sich darauf gefasst machen muss, dass der Begriff eine Menge von neurotischen und autistischen Vorurteilen gegen die Macht der Vormünder auf sich ziehen wird. Ich bin überzeugt, dass eine durchdachte und großzügige Theorie der Vormundschaft uns vor manchen absurden Nebenwirkungen eines überspannten Geredes von Menschenwürde bewahren wird.
TSP.: Denken sie nur an Vormundschaft für Kinder, die schon da sind?
Sloterdijk: Nicht nur an solche. Es gibt wie gesagt auch Vormundschaft für Ungeborene und Niegeborene. In allen Gesellschaften findet ständig eine Art Einwanderung statt. Ich meine hier nicht die von außen, sondern die von innen, die biologische Einwanderung der je neuen Generationen. Diese Einwanderer kommen nicht über äußere Grenzen, sondern durch die Mütter. Auch da gibt es seit jeher eine Art Einwanderungspolitik. Nie waren den Gesellschaften alle Einwanderer willkommen, weder diejenigen, die von außen kamen, noch diejenigen, die von innen kamen. Bei der biologischen Zuwanderung lag die Rolle der Grenzbeamten seit jeher bei den Müttern; sie spielen die Rolle der Einwanderungsoffiziere, die darüber entscheiden, wer hereingelassen wird und wer nicht; das war und ist ein unvordenkliches Recht der Frauen. Über diese Tatsachen muss man sich verständigen, bevor man anfängt, über Prinzipien zu reden.
TSP.: Bei den überzähligen Embryonen sind die Einwanderungsoffiziere keine Mütter, sondern Ärzte.
Sloterdijk: Hier kann man die Regel der abgestuften Schutzleistungen sinnvoll anwenden. Sie interpretiert den Spielraum für die frühesten Formen des potentiell menschlichen Lebens, das noch undefiniert und daher auf der niedrigsten Schutzstufe angesiedelt ist. Natürlich hat auch der nur wenige Tage alte Embryo einen Fürsorgeanspruch. Aber da sind eine Reihe von Ausnahmen und Abweichungen zuzugeben. Das liegt in der Natur der Sache, wie man schon an den Naturvorgängen selbst bemerkt. Jede dritte oder vierte Menstruation, sagen Frauenärzte, ist eine Spontanabstoßung auf Grund einer vom Organismus verweigerten Nidation. Doch merken die Frauen in der Regel nichts davon. Sobald der Mutterorganismus die Einnistung zugelassen hat, wird man eine höhere Stufe der Schutzwürdigkeit zugestehen.
TSP.: Wofür spricht das?
Sloterdijk: Dass man mit einem Konzept der gestuften Schutzwürdigkeit den realen Lebensverhältnissen und den moralischen Intuitionen der Menschen näher kommt als mit einem abstrakt allgemeinen Personbegriff, den man nur um den Preis der Unglaubwürdigkeit auf Embryonen im Vierzellenstadium anwenden kann. Faktisch operieren die meisten mit einem Dreistufenschema, das sich bewährt hat: Von Anfang an steht das befruchtete Ei und der unsichtbare Embryo unter dem Schutz ihrer natürlichen und juristischen Vormünder, die aber noch von einem größeren Bestimmungsspielraum Gebrauch machen können; auf der nächsten Stufe genießt der eingenistete Embryo bereits eine höhere Immunität aufgrund seiner manifesten Präsenz und seiner intimen Begrüßung durch die Mutter; und noch weiter geht die Immunisierung, wenn gegen die Mitte der Schwangerschaft nach traditionellem Verständnis eine Art Beseelungschub einsetzt; dann schließt sich der Schutzring um das neue Leben völlig; von da an haben wir es mit einem Menschenwesen zu tun, dem niemand mehr seine Daseinsrechte abzusprechen vermag, unter welchen Vorwänden auch immer.
TSP.: Was liegt vor der Menschenwürde? Integrität?
Sloterdijk: Auch über Integrität kursieren viele überspannte Vorstellungen. Man redet von der eigenen Integrität des behinderten Lebens, von einem Recht auf Unvollkommenheit, vom Recht gezeugt und nicht gemacht zu werden. In solchen Formulierungen stecken zum Teil sympathische Ideen, aber sie sind mit einer problematischen Tendenz zur Kapitulation vor dem Vorgefundenen verknüpft. Bei allem Respekt vor der Theologie: Die Natur ist als solche schon ein einziger Nachbesserungsprozess und zugleich ein Prozess, der zahllose Gen-Kopierfehler weitertransportiert. Ich lehne die theologische Verklärung von Erbkrankheiten ab, ich glaube nicht an den Gott, der Hasenscharten schuf. Natürlich kann ich es verstehen, wenn viele es skandalös finden, dass demnächst an Embryonen oder schon an der Keimbahn therapeutische Verbesserungen versucht werden sollen. Aber es ist mindestens genauso skandalös, dass überhaupt missgebildete Kinder aus der Hand der Evolution hervorgehen.
TSP.: Aber wird dann nicht irgendwann alles, was einer immer anspruchsvolleren Idee von Perfektion entspricht, zur Behinderung?
Sloterdijk: Darin liegt eine Gefahr, doch geht diese nicht von der Gentechnik als solcher aus, sondern vom infantilen Modell-Denken narzisstischer Menschen. Der Perfektionismus der Dummköpfe ist etwas Schauderhaftes. Wie soll man den verbieten? Tatsächlich tauche zurzeit vor allem in den USA Vorstellungen von der Züchtung des Superman, eines Robustmenschens oder eines Talentmutanten wieder auf, aber dergleichen ist kulturanthropologische und moralisch lächerlich, genauso wie auch alle Ideen von der Rückzüchtung des Menschen zum Kampfaffen der Darwin-Ära immer schon absurd gewesen sind. Andererseits muss man schon ein wenig darauf achten, dass keine Gen-Spinner in isolierten Labors angewandte Science Fiction treiben. Aber in der verdichteten Welt sind solche Entwicklungen weniger zu fürchten als manche glauben. Auch Außenseiter werden durch die technologische Community früher oder später resozialisiert. Nur seriöse Gentechniker haben ein authentisches Mandat ihrer Kultur.
(...)
aus: DER TAGESSPIEGEL vom 08.03.2001, Seite 6 f.
Sloterdijk-Debatte
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