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Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes

92. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 02.10.1999 von Hans-Jürgen Bienefeld (Gastvortrag)


Zum Geleit:

Spenglers Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes" ist mehrdeutig: es verquickt Anamnese der Kulturen, Diagnose der Zivilisation und imperativisch getönte Prognose. Poetik, Politik und Geschichte bilden in Spengler eine unauflösbare Trias. Polarstern an Spenglers Bildungshimmel war Johann Wolfgang von Goethe; verwandt empfand er dessen "lebendige Natur", Intuition der Phänomene, organische Entwicklungsidee und vergleichende Morphologie. Schon 1912 wählt Spengler den alarmierenden Titel seiner Schrift. Der erste Band erscheint zum Kriegsende 1918. Das Mißverständnis des Titels löst große Breitenwirkung aus.

Spengler betrachtet Kulturen als Subjekte der Weltgeschichte, Organismen vergleichbar, jede "grundlos" und von "erhabener Zwecklosigkeit", alle von gleichem Rang, gleicher Lebensdauer und gleicher Ablaufsgesetzlichkeit. Jede erhebt sich aus dem Formenchaos einer Vorzeit, erwacht zu eigener Religion, durchläuft Frühzeit, Reifungskrise, Spätzeit und Alterungskrise und geht nach Entfaltung, Rationalisierung und Verwirklichung in die Zivilisation über, deren Dauer von der Schaffung einer imperialen Schutzordnung abhängt. Die Lebensphasen der einzelnen Kulturen sind "gleichzeitig", die Phänomene "analog".

Robert Musil spottete über Spenglers "Methode der Analogie": "Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen. In gewisser Weise kann man also sagen, der Falter ist der geflügelte mitteleuropäische Zwergchinese. Falter und Chinese sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum ersten Mal wird hier der Gedanke an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der lepidopteren Fauna und der chinesischen Kultur gefaßt. Das der Falter Flügel hat und der Chinese keine ist nur ein Oberflächenphänomen!"

Von bleibender Bedeutung scheinen Spenglers Anregungen zur Kritik des gegenwärtigen Kulturumbruchs, zur Verwerfung des Eurozentrismus, zur Forderung nach einer Neukonzeption der Universalgeschichte wie zur Betonung der Formengemeinschaft der verschiedenen Erscheinungen eines Zeitalters.




Hans-Jürgen Bienefeld

Physiognomischer Skeptizismus
Oswald Spenglers "Morphologie der Weltgeschichte"
im Kontext zeitgenössischer Kunsttheorien

Obwohl zu den Quellen von Oswald Spenglers Denken zahlreiche Einzeluntersuchungen vorliegen, ist die Beziehung dieses Autors zur Kunstgeschichte bisher nicht oder aus einer nur unzureichenden Perspektive erforscht worden (1). Eine Untersuchung dieses Verhältnisses wäre jedoch für das Verständnis von Spenglers geschichtsphilosophischer Konzeption von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Feststellung von L. Curtius, daß in den Erörterungen Spenglers zur Kunstgeschichte kein einziger Gedanke zu finden sei, der nicht schon in der modernen kunstgeschichtlichen Literatur aufzufinden wäre (2), ließe sich ohne weiteres dahingehend erweitern, daß diese Literatur auch das geschichtsphilosophische Konzept Spenglers wesentlich mitbestimmt hat. Mit dem Lesen des Untergangs des Abendlandes im Kontext der zeitgenössischen Kunstgeschichte ließe sich darüber hinaus zeigen, daß auch dieses scheinbar inkomparable Buch in der Tradition einer geistesgeschichtlichen Diskursformation steht, die aufgrund der hier gebotenen Kürze der Einfachheit halber mit einem Ausdruck von Jost Hemand als "formalanalytische Richtung" der Geisteswissenschaften bezeichnet werden soll (3). Der Zusammenhang zwischen dieser Richtung und Spenglers geschichtsphilosophischem Entwurf soll im folgenden anhand einer Konfrontation einschlägiger Äußerungen aus dem Untergang des Abendlandes mit entsprechenden Positionen der zeitgenössischen Kunstgeschichte untermauert werden.

Am Ende des Kapitels über Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus, also an einer Stelle, an der man es nicht ohne weiteres vermutet, macht Spengler eine kurze, aber aufschlußreiche Bemerkung über die Stellung der europäischen Philosophie angesichts des "Untergangs des Abendlandes". Nachdem das Geheimnis der Welt nacheinander als Erkenntnisproblem, als Wertproblem und als Formproblem thematisiert worden sei, bleibe der Philosophie am Ende ihrer Entwicklung nur noch die Möglichkeit eines "physiognomischen Skeptizismus", für den die klassischen Themen der Philosophie lediglich den "historischen Ausdruck einer Kultur" darstellten (4). "Historischer Ausdruck einer Kultur", das scheint auf den ersten Blick nichtssagend und banal, dennoch ist in dem Begriff "Ausdruck" Spenglers gesamte Philosophie gewissermaßen in nuce zusammengefaßt und darüber hinaus noch eine bedeutende und einflußreiche Richtung des modernen europäischen Denkens angesprochen, nämlich die Richtung, für die nicht die Inhalte, die Aussagegehalte oder der Sinn kultureller Gebilde im Mittelpunkt der Analyse stehen, sondern deren Gestalt und Form.

Daß auch Spengler ein Vertreter dieses Denkens ist, drückt sich bereits im Begriff der "Morphologie" aus. Diesen auf das griechische Wort morphe (Form, Gestalt) zurückgehenden Begriff übernimmt Spengler von Goethe. Er bildet ihn jedoch im Sinne einer universellen Weltbetrachtung um, die sich auf alle Erscheinungen der Wirklichkeit erstreckt, wobei lediglich zwischen "Systematik" (Morphologie der Natur) und "Physiognomik" (Morphologie der Geschichte) unterschieden wird (5). Grundlegend für das Verständnis des Begriffs der Physiognomik ist Spenglers Auffassung der äußeren Wirklichkeit als "Symbol", in dem sich jeweils eine spezifische "Kulturseele" manifestiert. Sichtbare Geschichte ist aus diesem Grund "Ausdruck, Zeichen, formgewordenes Seelentum" (6). Geschichtsmorphologie hat die Aufgabe, dem äußeren Bild der Weltgeschichte, welches sich dem ungeübten Blick als "Gewirr von anscheinend freiester Zufälligkeit" darstellt, die "Urformen" abzuringen, die allem Werden zugrunde liegend Physiognomik fragt somit nach der

"(...) sozusagen metaphysischen Struktur der historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren populären geistig-politischen Bildern der Oberfläche wesentlich unabhängig ist" (7).

Diese Struktur, daran sei hier nur am Rande erinnert, ist bei Spengler einerseits eine organische Struktur, die analog zum Wachstum der Pflanzen und Lebewesen das Entstehen, Blühen und Vergehen aller Kulturkreise bestimmt und deren Endstadium immer die "Zivilisation" mit ihren Dekadenzerscheinungen bildet. Die Unterschiede der Kulturkreise sind durch eine jeweils eigene - nichtbiologische - Urgestalt bestimmt, von der die gesamte Geschichte dieses Kulturkreises ihren charakteristischen Habitus erhält.

Entscheidend ist, daß Spengler im Zusammenhang mit diesen Hervorbringungen einen universellen Stilbegriff einführt. Weil er ausnahmslos alle geschichtlichen Erscheinungen, darunter so verschiedene wie das ägyptische Verwaltungssystem, das antike Münzwesen, die analytische Geometrie, den Scheck, den Suezkanal, den chinesischen Buchdruck, das preußische Heer und die römische Straßenbautechnik usw., als "Symbole" auffaßt, kann Spengler nicht nur zwischen der "kontrapunktischen Instrumentalmusik und dem wirtschaftlichen Kreditsystem" einen "tiefen Zusammenhang der Form" konstatieren, sondern auch von einem "religiösen, gelehrten, politischen, sozialen (und) wirtschaftlichen Stil" sprechen, durch den sich die Schicksalsidee einer jeden Kultur in den verschiedensten Bereichen veräußerlicht (8). Kulturen sind damit "Organismen größten Stils"(9), eines Stils, der "im Dasein ganzer Kulturen den gesamten Lebensausdruck höherer Ordnungen" umfaßt (10). Physiognomik - also die Morphologie der Geschichte - ist mithin "Formgeschichte" (11), "Strukturlehre der Geschichte" (12), sie hat es mit der "Formensprache der menschlichen Geschichte", mit "der Formensprache aller Kulturgebiete" - kurz mit den "Formproblemen des Historischen" (13) zu tun. Analog dazu besteht die Aufgabe der Naturwissenschaften am Ende des Abendlandes für Spengler darin, eine "Morphologie der exakten Wissenschaften" zu schreiben, die Physik, Chemie und Mathematik ebenfalls als Symbole auffaßt und "untersucht, wie alle Gesetze, Begriffe und Theorien als Formen innerlich zusammenhängen". Zum Beispiel warum die abendländischen Zahlen gerade in der uns bekannten "bildlichen Verkleidung" auftreten (14).

Die soeben genannten Beispiele, die sich beliebig ergänzen ließen, sollten zeigen, wie Spengler an entscheidenden Stellen mit Begriffen operiert, die aus der Kunstgeschichte stammen. Neben dieser Terminologie kommt die unübersehbare Affinität Spenglers zur Kunstgeschichte vor allem in den zahlreichen kunstgeschichtlichen Erörterungen im Untergang des Abendlandes zum Ausdruck. Ähnlich wie beim Begriff der Morphologie werden jedoch die kunstgeschichtlichen Kategorien auf Gebiete angewendet, die mit dem eigentlichen Gegenstand dieser Wissenschaft nur noch wenig zu tun haben. So benutzt Spengler z.B. die Architektur nicht nur dazu, die für ihn wichtige Theorie der miteinander nicht kommensurablen Raumauffassungen der verschiedenen Kulturkreise zu veranschaulichen. In der Architektur versinnbildlichen sich für ihn auch die unterschiedlichen Zeitauffassungen, in denen - wie im Raumgefühl - die jeweilige "Schicksalsidee" der Kulturkreise zum Ausdruck kommt. (15) Es sind für Spengler also die großen Künste und nicht die Mathematik oder das abstrakte Denken, die den Schlüssel für das Verständnis der Zeit liefern. Das ist einer der Gründe, warum man Spenglers Vorgehen mit einem modernen Ausdruck als Ästhetisierung der Wirklichkeit bezeichnen kann. Ästhetisierung bedeutet in letzter Konsequenz, daß den Formen eine Eigengesetzlichkeit zugesprochen wird, die allen inhaltlichen Bestimmungen vorgelagert ist und diese strukturiert (18). Selbst wenn man die Polysemie der im Untergang des Abendlandes verwendeten Begriffe "Form" und "Stil" in Rechnung stellt, ist es gerade diese Autonomisierung der Form gegenüber den Inhalten, die Spengler konsequent durchführt, indem er alle Erscheinungen als Stilphänomene bestimmt. Das gilt für die Formen oder Symbole, welche die "Schicksalsidee" jeder Kultur selbst sind (19), ebenso wie für die "äußeren Formen" (20) die "Formelemente der Oberfläche" (21), in denen diese Idee erscheint. Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko usw. sind einerseits Stilepochen, die in allen Kulturkreisen analog auftauchen, jedoch durch das unterschiedliche Stilprinzip, das jedem Kulturkreis zugrunde liegt, eine individuelle, für den jeweiligen Kulturkreis charakteristische und einzigartige Ausprägung erfahren. Dabei materialisiert sich dieses Stilprinzip in allen "menschlichen Lebensäußerungen höherer Kulturen", d.h. sowohl in den großen Kunstwerken, den Gebrauchsgegenständen als auch im Tun, Denken, in der Haltung und der Gesinnung der einzelnen Menschen. (22) Jede Lebensauffassung eines "Kulturmenschen" läßt somit den "Stil (...) einer bestimmten Kultur" erkennen (23). Andererseits sind alle Stile eines Kulturkreises durch dessen "Schicksalsidee" geprägt. Die "faustische Seele" des Abendlandes zum Beispiel prägt alle Lebensäußerungen dieses Kulturkreises, so daß Barock und Gotik schließlich als Stufen ein und desselben, nämlich des faustischen Stils, als "Jugend und Alter desselben Inbegriffs von Formen" erscheinen (24). Auch die letzten Grundlagen der Kulturkreise sind mithin "Urform" (25), "Ursymbol" (26) "Stil der Seele" (27) usw. - mit einem Wort: "Urgestalt der Kultur (...), die allen einzelnen Kulturen als Formideal zugrunde liegt" (28).

Spenglers Grundgedanke besteht somit darin, daß jede individuelle Hervorbringung der menschlichen Geschichte und Kultur Ausdruck von Stilgesetzen ist. Ob individuelle Handlung, ob scheinbar spontane Hervorbringung eines Kunstwerkes, ob ganze Epochen, ob Kulturkreis - allen Erscheinungen der Weltgeschichte liegt ein Form- oder Stilprinzip zugrunde, das individuelle Ausprägungen nur in einem bestimmten Rahmen zuläßt und somit allen Hervorbringungen dieses Kulturkreises seinen "Stil" aufragt, auch wenn innerhalb dieses Rahmens gewisse Spielräume existieren. Es ist z.B. Ausdruck der allen Kulturkreisen gemeinsamen organischen Prozeßstruktur, daß es beim Übergang der Kultur zur Zivilisation zu einer Revolution kommen wird. Daß sich diese Revolution im abendländischen Kulturkreis in der Form der Französischen Revolution materialisiert, ist dagegen "zufällig", d.h. nicht zwingend notwendig (29). Dem entspricht, daß sich junge Völker, die an die Stelle der alten treten, etwa bei der Völkerwanderung, überlieferter Formen bedienen können - freilich ohne damit ihr eigenes Wesen auszudrücken, weshalb Spengler hier von Pseudomorphosen spricht (30). Indem Spengler durchgängig die Formprinzipien weitgehend von konkreten inhaltlichen Bestimmung freizuhalten versucht, gelingt es ihm einerseits, den strengen Determinismus, der seiner Kulturkreislehre immanent ist, teilweise zu relativieren und der Vielfalt der historischen Erscheinungen gerecht zu werden. Zum anderen ist dieses Vorgehen für Spenglers politische Option unabdingbar, daß das Deutsche Reich, analog zum Imperium Romanum in der Endphase der Antike, zur bestimmenden Kraft der abendländischen Zivilisation werden soll. Eine solche Option ist nur möglich, weil es innerhalb des Stilprinzips der Kulturkreise Entscheidungsspielräume für die Inhalte gibt, in denen sich die Schicksalsidee realisiert. Der abendländische Mensch kann im Finalstadium seines Kulturkreises zwar ein großes Kunstwerk wie den Faust nicht mehr schreiben, aber er kann sich zwischen Marine, Technik oder Politik entscheiden, wie es an einer berühmten Stelle im Untergang des Abendlandes heißt (31).

Die für Spengler charakteristische Konstellation von Politischem und Ästhetischem war ursächlich auch am Entstehen seines Hauptwerkes beteiligt. Nach eigenem Bekunden war es der Schock über die Ohnmacht des Deutschen Reiches während der Marokkokrise von 1911, die Spengler zur Konzeption und Niederschrift des Untergangs des Abendlandes veranlaßte, nachdem er sich vorher vor allem mit "kunstphilosophischen Fragen" beschäftigt hatte (32). Diese Beschäftigung läßt sich bis in die Details seiner eigenen kunstgeschichtlichen Erörterungen verfolgen (33).

Wie viel er darüber hinaus bei der Konzeption der universellen Kulturmorphologie den Kunsttheorien seiner Zeit verdankt, soll im folgenden anhand der Darstellung einiger Kernthesen der von Franz Wickhoff gegründeten sogenannten Wiener Schule der Kunstgeschichte deutlich werden (34). An erster Stelle ist hier Alois Riegl zu nennen, dessen Einfluß auf Spengler nicht zu unterschätzen ist. Daneben ist es vor allem der Nachfolger Riegls in Wien, Max Dvorak, der den Ansatz Riegls in einer Art und Weise weiterentwickelt hat, die gewissermaßen eine der unerläßlichen Bedingungen für Spenglers Konzeption bildet. Schließlich müssen noch Wilhelm Worringer und Heinrich Wölfflin genannt werden, die zwar nicht der "Wiener Schule" angehören, aber dennoch ähnliche Positionen wie diese Schule vertreten. Wölfflins "Kunstgeschichtliche Grundbegriffe" weisen außerdem erstaunliche Analogien mit dem Geschichtsmodell Spenglers auf, obwohl die Rezeption Wölfflins durch Spengler, im Gegensatz zu den anderen Autoren, im Untergang des Abendlandes nicht erwähnt wird. Alle genannten Autoren sind Protagonisten eines seit 1885 stattfindenden Paradigmenwechsel in der Kunstgeschichte, der, grob gesprochen, hauptsächlich in einem Bruch mit drei traditionellen Essentials dieser Wissenschaft bestand. Und zwar

(l) im Bruch mit der Kulturgeschichte, für die das "Klassische" den unhintergehbaren Maßstab für Kunst bildete,
(2) im Bruch mit einer individualisierenden, auf einzelne Künstlergenies bezogenen Darstellung, und
(3) im Bruch mit den klassischen ästhetischen Werturteilen "schön" und "häßlich", die die Bewertung von Kunst von subjektiven Kriterien abhängig machen.

Die hauptsächliche Folge dieses dreifachen Bruches war zunächst eine erhebliche Ausweitung des traditionellen Gegenstandsbereiches der Kunstgeschichte. Bis dahin nicht als Kunst angesehene und als häßlich empfundene Epochen wie die römische Spätantike oder der Barock wurden nun mehr Thema kunstwissenschaftlicher Untersuchungen. Desweiteren verschwanden die Gattungsgrenzen zwischen "hoher" und angewandter Kunst. Um den "Pulsschlag der Zeit" zu belauschen, wandte man sich von jetzt an "den kleinen dekorativen Künsten, (...), den Linien, der Dekoration (und) den Schriftzeichen" (35). Nicht zuletzt konnten durch die Herauslösung der Kunst aus der Gesamtkultur und durch den Verzicht auf wertende Urteile einzelne Kunstepochen überhaupt erst als selbständige und gleichwertige Untersuchungsgegenstände isoliert und dann entsprechend analysiert werden (36).

Der von Wilhelm Worringer gleich zu Beginn seines Buches Formprobleme der Gotik formulierte Grundsatz, daß es das proton pseudos jeder Historie sei, die vergangenen Dinge nicht von ihren eigenen, sondern von unseren Voraussetzungen her aufzufassen und zu bewerten (37), kann sowohl als einer der zentralen Programmpunkte der neuen Kunstgeschichte wie auch - universalhistorisch erweitert - als ein grundlegendes Axiom des Untergangs des Abendlandes angesehen werden (38). Für Spenglers geschichtsphilosophisches Programm ist daneben der von Riegl entwickelte Begriff des "Kunstwollens" von zentraler Bedeutung. An die Stelle traditioneller Erklärungen für das Entstehen von Kunst - Nachahmung, Materialbeschaffenheit und Technik -, die Riegl für nicht ausreichend hält, tritt die Vorstellung, eines sich durch bestimmte Epochen durchhaltenden Fortlebens und Weiterentwickelns weniger Kunstformen, sprich Stilgesetze. Ausgehend von der Beobachtung, daß das Akanthusornament seine Entstehung nicht der unmittelbaren Nachahmung der Akanthuspflanze verdanken kann - es gibt für Riegl keinen nachvollziehbaren Grund, warum man das "erstbeste Unkraut zum künstlerischen Motiv" erhoben haben soll (39) -, und durch intensive Ornamentforschung während seiner Tätigkeit in der Textilabteilung des Österreichischen Museums für Technik und Kunst, kommt Riegl zu dem Ergebnis, daß sich die wichtigsten Motive der griechischen, römischen und orientalischen Ornamentik in einer ununterbrochenen Entwicklungsreihe aus einigen wenigen Grundmotiven entwickelt habe (40). In seinem Buch Spätrömische Kunstindustrie führt Riegl in einem ähnlichen Verfahren den Nachweis, daß die Kunst der Völkerwanderungszeit dieselben Stilmerkmale und Stilveränderungen aufweist wie die letzten Stilphasen der klassischen Kunst. Damit erscheint diese Kunst, die bisher als originäre Leistung der in das römische Weltreich eindringenden barbarischen Völker angesehen worden war, als Weiterbildung der bereits vorhandenen römischen Kunst. (41)

Indem Riegl auf diese Weise die Kunst von Konstantin und Justinian bis zu Karl d.Gr. zu einer entwicklungsgeschichtlichen Reihe zusammenschließt (42), demonstriert er zum ersten Mal das Verfahren, mit dem auch Spengler ein Jahrzehnt später den antiken Kulturkreis als eine organische Einheit auffassen wird. Spenglers Grundgedanke, daß sich in allen Lebensäußerungen des jeweiligen Kulturkreises eine einzige "Schicksalsidee" verwirklicht, entspricht darüber hinaus genau dem von Riegl ins Spiel gebrachten Begriff des "Kunstwollens", d.h. des in allen gleichzeitigen Kulturverhältnissen wirksamen "Gesamtwollens", das den "Stil" einer Epoche unabhängig von äußeren Bedingungen, wie Material, Vorlagen in der Natur usw. prägt (43). Und die von Spengler formulierte Aufgabe der zukünftigen Wissenschaft, "in der Weltanschauung gotischen Stils die gleiche Sonderung der letzten Elemente vorzunehmen wie in der Ornamentik der Kathedralen und in der damaligen Malerei" (44), liest sich geradezu wie eine Paraphrase der von Riegl geforderten zukünftigen Kunstarchäologie, die in der Formgebung des kleinsten gebrauchswerklichen Gerätes dieselben leitenden Gesetze des jeweiligen Kunstwollens zu erkennen habe, die auch in der gleichzeitigen Skulptur und Malerei wirksam seien (45). Die Nachfolger Riegls haben diesen Ansatz konsequent weiterentwickelt und zuletzt auch die Grenzen zwischen den einzelwissenschaftlichen Disziplinen eingeebnet. Spenglers These, daß alle Lebensäußerungen eines Zeitalters als Formen innerlich zusammenhängen, findet sich auch schon bei Max Dvorak, der bei seinem Vorhaben, Kunstgeschichte und Ideengeschichte zu verbinden, unter anderem Parallelen zwischen der Theologie der Gegenreformation, Cervantes und El Greco herausgearbeitet hat (46).

Die Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Kunstgeschichte, die Pluralisierung der Kunstepochen, die Einebnung der Disziplingrenzen ist nur durch die Wendung zu Problemen des Stils und der Form möglich, die sich ja schon in den Buchtiteln unübersehbar ankündigt. Es ist somit jene am Anfang unseres Jahrhundert "rasch anwachsende formalanalytische Richtung" (47), die Spengler die Möglichkeit eröffnet, seine universalhistorische Morphologie der Weltgeschichte zu schreiben. Als Tendenz lag diese Art der Geschichtsbetrachtung gewissermaßen in der Luft. In dem auch von Spengler rezipierten Buch Formprobleme der Gotik benutzt Wilhelm Worringer den von Riegl stammenden Begriff "Kunstwollen" dazu, um im Sinne einer "Stilpsychologie" die formalen Werte von Kunstwerken als präzisen Ausdruck "innerer Werte" verständlich zu machen, mithin den "Untergrund formbildender Energien" zu erforschen, der sich sowohl "im kleinsten Gewandzipfel wie in den Kathedralen der Gotik" manifestiert (48). Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Auffassung, daß aus den Änderungen des Kunstwollens, die in den Stilvariationen zum Ausdruck kommen, Änderungen der seelisch-geistigen Konstitution der Menschheit überhaupt werden (49). Alois Riegl hatte ja schon 1901 festgestellt, daß das "Kunstwollen" mit den "übrigen Hauptäußerungsformen des menschlichen Wollens während der gleichen Zeitperiode schlichtweg identisch" sei, und somit auch in der "Religion, Philosophie, Wissenschaft, Staat und Recht" zum Ausdruck komme (50). Auf diese Weise gelangt Riegl zuletzt zum Konzept einer Historischen Grammatik der bildenden Künste, in der die wenigen Elemente, "auf die sich alle Werke der bildenden Kunst ohne Ausnahme zurückführenlassen" systematisiert werden (51). Daß, um ein letztes Beispiel zu nennen, auch Spenglers Idee der "Gleichzeitigkeit" - nämlich die Vorstellung, daß es für jede historische Erscheinung eines Kulturkreises ein genau entsprechendes Gegenstück in allen anderen Kulturkreisen gibt (52) - gewissermaßen ideengeschichtliches Allgemeingut gewesen ist, soll durch einen abschließenden Blick auf Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe gezeigt werden, dessen Rezeption durch Spengler nicht explizit belegt ist. Auch Wölfflin geht, wie die bereits genannten Kunsthistoriker der Wiener Schule, davon aus, daß dem künstlerischen Schaffen (optische) Schemata vorausgehen, welche die Ausführung aller Kunstwerke, von der Architektur bis zur darstellenden Kunst strukturieren. In den "Kunstgeschichtlichen Grundbegriff" soll daher nicht der "imitative Gehalt", sondern der "gestaltgebende Kern" eines Kunstwerkes bestimmt werden, d.h. das "Element", in dem die Schönheit eines Kunstwerks "Gestalt gewonnen hat" (53). Auf diese Weise werde deutlich, daß die Kunst ihr "eigenes Wachstum und ihre eigene Struktur" besitze, nämlich das "heimliche innere Leben und Wachstum der Form" (54). Dieses Wachstum verläuft wie ein "organischer Prozeß" mit Entwicklungsstufen, denen jeweils eine ganz bestimmte Form der Gestaltung entspricht. "Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich. Das Sehen an sich" - d.h. die historisch vorgegebene Darstellungsform, die den formalen Rahmen darstellt, innerhalb dessen der Künstler seine Ideen verwirklichen kann - "hat seine Geschichte, und die Aufdeckung dieser "optischen Schichten" muß als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte angesehen werden (55). Als formale Elemente treten die "optischen Schichten" auch bei Wölfflin "gleichzeitig" auf. Frühstufen, Hochstufen und Spätstufen sowohl des Barock als auch der Gotik und aller anderen Stilepochen zeigen an den entsprechenden Punkten ihrer Entwicklung die jeweils gleichen formalen Kennzeichen:

"Es gibt eine Klassik und einen Barock nicht nur in der neueren Zeit und nicht nur in der antiken Baukunst, sondern auch auf einem so ganz fremdartigen Boden wie der Gotik" (56).

Hier schließt sich der Kreis zum Untergang des Abendlandes. Es ist meines Erachtens offensichtlich, daß Spenglers Konzeption der "Morphologie der Weltgeschichte" entscheidend von Grundgedanken der Kunstgeschichte inspiriert worden ist, genauer von jenen Protagonisten des kunstgeschichtlichen Paradigmenwechsels, den man vor allem mit dem Namen der "Wiener Schule" verbindet. Einer der Grundgedanken dieser Richtung der Kunstgeschichte, daß allen menschlichen Hervorbringungen, die man unter dem Oberbegriff Kultur zusammenfassen kann, ein Prinzip zugrunde liegt, das den speziellen Ausformung dieser Hervorbringungen einen charakteristischen "Stil" aufprägt, über den man dann wiederum dieses "Prinzip" rekonstruieren und beschreiben kann, bildet auch die Grundlage für Spenglers Geschichtsphilosophie. Daß die conditio sine qua non für dieses Konzept, sowohl für die "Wiener" als auch für Spengler, die Universalisierung des kunsthistorischen Stilbegriffs ist, liegt auf der Hand. Massimo Zumbini hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die Feststellung Willibald Sauerländers, Riegl habe die Geschichte zum Stilphänomen gemacht und damit zu einer "historischen Morphologie der Weltanschauungen" ästhetisiert, auch auf Spengler zutrifft. Von einem bloßen Epigonentum Spenglers zu reden, wäre m.E. jedoch nicht angemessen. Auch wenn sie an dieser Stelle nur unzureichend untermauert werden konnte, soll am Abschluß dieser Arbeit die These stehen, daß sich ungefähr seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, zunächst im Rahmen der deutschen Kunstgeschichte, ein Typus des historischen Denkens - wenn man so will, eine Diskursformation - herausgebildet hat, der in Spengler einen (vorläufigen) und eigentümlichen Höhepunkt fand, aber für weitaus mehr Denker, als in diesem Rahmen behandelt werden konnten, kennzeichnend ist. Es wird weiteren Untersuchungen vorbehalten sein, diese These zu belegen.

aus: Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz - Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur, Wolfgang Bialas, Burkhard Stenzel (Hg.), Böhlau Verlag Weimar Köln Wien 1996, S. 143-155.

Anmerkungen:

1 Vgl. MASSIMO FERRARI ZUMBINI, Macht und Dekadenz. Der Streit um Spengler und die Frage nach den Quellen zum 'Untergang des Abendlandes', in: A. Demandt und J. Farrenkopf (Hg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Wien 1994, S. 89f; MANFRED SCHRÖTER, Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker, München 1922, S. 48ff.
2 LUDWIG CURTIUS, Morphologie der antiken Kunst, in: LOGOS 1919/20, S. 197.
3 JOST HERMAND, Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft Methodische Wechselbeziehungen seit 1900, Stuttgart 1972, S. II.
4 OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Vollständige Ausgabe in einem Band, München 1963, S. 481.
5 Vgl. ebd., S. 135.
6 Ebd., S. 8.
7 Ebd., S. 139.
8 Ebd., S. 3.
9 Ebd., S. 8f.
10 Ebd., S. 169.
11 Ebd., S. 136.
12 Ebd., S. 146.
13 bd.,S.258.
14 Ebd., S. 147.
15 Ebd., S. 8.
16 Ebd., S. 549.
17 Vgl. ebd., S. 166ff.
18 Vgl. JOSEF FRÜCHTL, Die Wiedergeburt des Ästhetischen aus dem Geist des nachmetaphysischen Denkens, in: Information Philosophie Nr. 2 (1993), ARNOLD GEHLEN, Über kulturelle Kristallisation, in: DERS., Studien zur Anthropologie, Neuwied 1963, JAKOB TAUBES, Die Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire, in: G. Althaus/I. Staeuble (Hg.), Streitbare Philosophie. Festschrift für M. v. BRENTANO, Berlin 1988, ALEXANDRE KOJEVE, Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1975.
19 Vgl. SPENGLER, S. 204, 206f.
20 Ebd., S. 192f.
21 Ebd., S. 617f.
22 Vgl. ebd., S. 146.
23 Ebd., S. 440.
24 Ebd., S. 265.
25 Ebd., S. 140.
26 Ebd., S. 226.
27 Ebd., S. 265.
28 Ebd., S. 141.
29 Vgl. ebd., S. 193.
30 Vgl. ebd., S. 618, 620ff.
31 Ebd., S. 57.
32 ANTON MIRKO KOKTANEK, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 129.
33 Vgl. ZUMBINI, S. 90f.
34 Zur "Wiener Schule" vgl. WILLIAM M. JOHNSTON, österreichische Kultur und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien 1972 (im folg.: Johnston), S. 161ff.
35 HEINRICH WÖLFFLIN, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, in: ders.. Kleine Schriften, Basel 1946, (im folg.: Prolegomena), S. 46.
36 Vgl. MAX DVORAK, Gesammelte Aufsätze zur Kunstgeschichte (ed. J. Wilde und K. M. Svoboda), München 1929, S. 280ff. DERS., Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Studien zur abendländischen Kunstentwicklung, München 1924. WILLIAM M. JOHNSTON, österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien 1972, S. 162. Willibald Sauerländer, Alois Riegl und die Entstehung der autonomen Kunstgeschichte am Fin de Siecle , in: R. Bauer, E. Heftrich u.a. (Hg.), Fin de Siecle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1977, S. 162ff.
37 WILHELM WORRINGER, Formprobleme der Gotik, München 1911 (im folg.: Worringer), S. l.
38 Vgl. OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1963 (Sonderausgabe in einem Band),S.31ff.
39 ALOIS RIEGL, Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1923 (im folg.: Stilfragen), S.XV.
40 Vgl, ebd., S.47; DVORAK, S.287f.
41 Vgl. ALOIS RIEGL, Spätrömische Kunstindustrie, Wien 1929 (ND Darmstadt 1992) (im folg.: Kunstindustrie);
42 DVORAK, ebd., S.288.
43 Vgl. Kunstindustrie, S.218; DVORAK, Aufsätze, S.287ff; W. KAMBARTEL, Artikel Kunstwollen in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (ed. J. Ritter und K. Gründer), Bd. 4, Sp. 1463.
44 SPENGLER, S. 393.
45 Kunstindustrie, S.282.
46 Vgl. DVORAK, Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Studien zur abendländischen Kunstentwicklung, München 1924 (im folg.: Geistesgeschichte), S.261-275, bes. S. 269ff, JOHNSTON, S. 164.
47 HERMAND, S.11.
48 Formprobleme, S.5.
49 Ebd., S. 10.
50 Kunstindustrie, S. 401, vgl. ZUMBINI 92.
51 ALOIS RIEGL, Historische Grammatik der bildenden Künste. Aus dem Nach- laß herausgegeben von K. M. Svoboda und O. Pächt, Graz 1966, S. 22; vgl.auch S. 75-89; 209ff.
52 Vgl. SPENGLER, S. 151.
53 HEINRICH WÖLFFLIN, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Dresden 1983, S. 18ff, 21; DERS., Das Erklären von Kunstwerken, Leipzig 1940, S. 32.
54 H. WÖLFFLIN, 1983, a.a.O., S. 18f.
55 A.a.O., S. 18.
56 A.a.O., S. 280.
57 Vgl. ZUMBINI, S. 92, SAUERLÄNDER, S. 136.