Terror auf dem Zauberberg
136. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 06.02.02 von Helge Martens
Zur Figur des Naphta in Thomas Manns Roman
Der Entwurf zum "Zauberberg" ist von Thomas Mann als komödiantisches
Nachspiel zur Tragödie "Tod in Venedig" um 1911 geplant worden. Im "Zauberberg"
sollte vom makabren Sterbebetrieb eines Davoser Lungensanatoriums erzählt werden.
Dann brach der Weltkrieg aus.
Thomas Mann nahm sein Projekt 1920 wieder auf. Er formte nun seinen "Zauberberg" zu einer Auseinandersetzung mit
der bürgerlichen Gesellschaft des 20. Jh. Es sollte auch ein Bildungsroman im modernen Sinne werden: Ein junger Mensch wird durch Menschen, Ereignisse und Gedanken
verschiedenster Art beeinflußt und angeleitet.
Einer der auf den jungen Hans Castorp einwirkenden Erzieher ist Ludovico Settembrini: ein laizistischer Italiener
aus dem 19. Jahrhundert, ein Klassizist, ein Mann der Humanität, der Menschenrechte, der Demokratie,
antiautoritär und gegen alle Formen der Feudalität.
Ihm stellt Thomas Mann als Widerpart Leo Naphta zur Seite: ein Expressionist, ein zum Katholizismus
konvertierter Jude, der dem Jesuiten-Orden nahe steht. Naphtas Denken ist in allen Teilen ein totalitäres,
fundamentalistisches gegenüber dem liberalen und demokratischen Denken eines Settembrini.
Aber hat Naphta selbst an seine Argumente geglaubt, oder sollte er den
Liberaldemokraten Settembrini nur gebildeter und subtiler ins Recht setzen?
Der nachstehend wiedergegebene Text ist ein Zitat aus der
FAZ vom 26.10.2001
(Nr. 249, S. 55) verfasst von Frederick A. Lubich.
Er lehrt Germanistik an der Universität Norfolk, Virginia.
"Der Tugendkatalog des internationalen Terrors findet sich
schon in Thomas Manns Zauberberg"
Den heiligen Terror kannte, zumindest in der Theorie, schon Thomas Mann. Als eine Art Denkexperiment brachte er ihn in seinem 1924 erschienenen "Zauberberg" unter, wo ihn Leo Naphta verkörpert. Naphta gilt der Literaturwissenschaft seit langem als Vordenker des Faschismus. Seit dem 11. September kann er als Präfiguration des internationalen Terrorismus gelten, den er im Roman so hartnäckig wie glühend propagiert.
Ursprünglich modelliert nach dem Vorbild von Georg Lukács und dessen idealistisch-kommunistischer Weltanschauung, personifiziert und chiffriert der zum Jesuitentum übergetretene Ostjude Naphta den subversiv-kontradiktorischen Zeitgeist der Weimarer Republik. Verwurzelt in den religiösen Orthodoxien talmudisch-jesuitischer Provenienz, steigert Naphta seine Weltentwürfe zu einem chiliastischen Blendwerk, in dem mittelalterliche Gottesstaatsutopie, jesuitische Gegenreformation und kommunistische Gesellschaftsdoktrin schillernd ineinander übergehen. Sein heilsgeschichtliches Zion gipfelt in der zelotischen Forderung nach der "Aufhebung der Gegensätze von Geist und Macht im Zeichen des Kreuzes". Naphtas mystisch-alchimistisch inspirierten und als regressiv-asiatisch identifizierten Weltvisionen setzt Settembrini die progressiv- aufklärerischen Traditionen der westlichen Zivilisation entgegen, die sich im wissenschaftlichen Fortschritt und der gesellschaftlichen Emanzipation des Individuums konkretisieren.
Diese kulturhistorische Dialektik der Widersprüche und ihrer ost-westlichen Gegensätze hat gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts an Dynamik und Relevanz verloren und versprach sich im vielberufenen "Ende der Geschichte" zunehmend selbst aufzulösen. Angesichts der jüngsten Ereignisse gewinnen die Antinomien der "Zauberberg"-Kontrahenten neuerlich Brisanz. Naphtas Abscheu vor den zeitgenössischen Demokratisierungs- und Liberalisierungstendenzen in Politik und Gesellschaft verdichten sich zum blindwütigen Haß auf das, was ihm schließlich zum Inbegriff allen Fortschritts wird, nämlich die freie, expansive Marktwirtschaft der westlichen Welt. So scheinen ihm "alle Greuel des modernen Händler- und Spekulantentums" verwirklicht in der "Satansherrschaft des Geldes, des Geschäfts". Naphtas reaktionär-revolutionäre Rabulistik und seine theokratischen Tiraden gegen die systematische Säkularisierung und materialistische Orientierung der westlichen Zivilisation - in der Dschihad-Chimäre von Amerika als "Großem Satan" feiern sie ihre fürchterlichen Urstände.
Gegen Settembrinis Modell einer modernen Weltrepublik individueller Freiheiten und internationaler Menschenrechte setzt Naphta manichäisch die mittelalterliche Ordo-Pädagogik eines miles christianus, die ausgerichtet ist nach den Maximen von "absolutem Befehl", "eiserner Bindung", "Disziplin", "Opfer", "Verleugnung des Ich" und "Vergewaltigung der Persönlichkeit". Nicht Freiheit wolle die Jugend, "ihre tiefste Lust ist der Gehorsam".
Das ist der Tugendkatalog des totalitären Terrors, und er illuminiert das Denk- und Verhaltensmuster des fanatischen Überzeugungstäters. Naphtas Verschränkung von Frömmigkeit und Gewalt verabsolutiert sich schließlich zur "heiligen Grausamkeit". Daß diese auch heute noch gottesstaatsbildende Macht besitzt, zeigt sich im Terror der Taliban und ihres Schreckensregimes über Afghanistan. Und auch Naphtas millennarische Hoffnung auf die Herrlichkeit der Gotteskindschaft kehrt wieder in der radikalislamischen Verheißung, daß Allah seine (Selbst- ) Mord-Märtyrer, als ultima ratio der Persönlichkeitsvergewaltigung, mit der ewigen Seligkeit belohne.
So offenbart sich Naphta, der princeps scholasticorum des "Zauberbergs", als exemplarische Fallstudie für die Psychogenese des "Heiligen Kriegers", seines Fundamentalismus und seiner absoluten Gewalt- und Herrschaftsphantasien sowohl über sich selbst als auch über die anderen. Sein Seelenunheil ist die mentale Matrix für die Kreuzzüge, Inquisitionen, Religionskriege und Pogrome des Abendlandes, über deren Ausmaß sich das islamische Morgenland jahrhundertelang nur wundern konnte.
Von der sich im "Zauberberg" abzeichnenden kriegerischen Auseinandersetzung, dem drohenden Untergang Europas und seiner dekadenten Kultur verspricht sich Naphta die göttliche Katharsis. Es ist die Vorstellung vom Krieg als gladius Dei, als Schwert Gottes im Sinne des Dominikanerpredigers Savonarola, Naphtas fernen Geistesverwandten aus der florentinischen Renaissance. In Thomas Manns gleichnamiger Novelle hatte sein asketisch-verquälter Mönch dieses Racheschwert Gottes über das leuchtende München der Jahrhundertwende heraufbeschworen, und zwar zur himmlischen Bestrafung für die sinnenfrohe Verweltlichung seiner Kultur. Dieses Projektionsphantom eines Gottesgerichtes auf Erden war schon immer die große Illusion der Läuterung und Erlösung, von der die Mühseligen und Beladenen dieser Welt und ihre mystagogischen Verführer seit je träumen.
Die wachsende Kriegslüsternheit treibt Naphta schließlich zum Duell mit Settembrini, welches dann auch - der radikalen Eschatologie des Gottesmärtyrers folgend - im melodramatischen Selbstmord Naphtas endet. Schauplatz seiner Selbsthinrichtung ist die winterliche Kulisse des Hochgebirges, in deren eisigen Wänden sein Schuß, der "Lärm seiner Untat", noch lange nachhallt. Naphtas Selbstverblendung, sein Haß auf den Handel und Wandel einer freien, modernen, westlichen Welt - solche Wahnvorstellungen explodierten schließlich im Kamikaze-Kommando der Al Qaida und ihrer Himmel- und Höllenfahrt ins World Trade Center von New York und verwandelten sich zur realen Horror Picture Show, inszeniert zum Entsetzen der ganzen Menschheit: gladius Dei super terram cito et velociter.
Der Rest ist die Wiederkehr der Geschichte, die in ihrem Heils- und Unheilspotential fortschrittlicher denn je scheint. Den konspirativen Organisationsstrukturen des heutigen internationalen Terrorismus vergleichbar, operierte auch Naphta in einer ausgesprochen kosmopolitischen Gedanken- und Geheimbundwelt. Entsprechend der Muslim Brotherhood und ihrem weitverzweigten, subversiv-fundamentalistischen Netzwerk ist auch Naphtas wirre Vita mit einer imaginär verschworenen Gemeinschaft von Templern, Rosenkreuzern und Jesuiten assoziiert; letztere sind sprechende Beispiele für die lange Reihe der mystisch- christlichen Bruderbünde und ihrer mehr oder weniger militanten Kreuzzugsbewegungen unter Naphtas geheimem Siegeszeichen, dem signum mortificationis.
Naphta ist ihr Wiedergänger und eifernder agent provocateur: der Moderne ruheloser Schläfer und Albträumer ihrer Apokalypse. Die kommende Zeit bedürfe des "heiligen Terrors" - damit beschließt der haßblinde Seher des "Zauberbergs" seine endzeitlichen Ausschweifungen. Dieser heilige Terror inauguriert nun das neue Millennium.
Zitat aus der FAZ vom 26.10.2001 (Nr. 249, S. 55)
von Frederick A. Lubich. Er lehrt Germanistik an der Universität Norfolk, Virginia.
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