Systemtheorie: Niklas Luhmann
122. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 19.08.2001 von Stefan Nehrkorn
Niklas Luhmann 1969 über den Gegenstand seiner
Forschung:
"Theorie der Gesellschaft, Laufzeit: 30
Jahre, Kosten: keine"
Inhalt:
Luhmanns Ausgangspunkt
Gelehrtenstreit
Was sind Systeme ?
Funktionssysteme
Schema einiger Funktionssysteme
Komplexität
"Moral"
Die Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann geht der Frage nach, wie die Beschreibung sozialer Ordnung in der modernen Gesellschaft möglich ist. Luhmanns Antwort ist seine "Theorie als Verfremdung des Üblichen".
Soziale Systeme als Reduktionszusammenhänge
für gesellschaftliche Komplexität sind der für Luhmann
einzig gangbare Weg zur Beschreibung sozialer Vorgänge in der
modernen Gesellschaft. Systeme sind nicht nur mehr als die Summe
ihrer Teile. Sie sind in der Systemtheorie etwas gänzlich
anderes: Sie sind der "Mehrwert" sozialer Interaktion.
In Luhmanns Theorie sind Systeme keine gedanklichen Konstrukte, sondern
faßbare Größen: "Es gibt Systeme."
Luhmann versucht mit seiner Theorie die
moderne Gesellschaft in ihrem strukturierenden Funktionieren zu verstehen.
Luhmanns Ausgangspunkt
Der Jurist und Soziologe
Niklas Luhmann (1927-98) begann 1969 die Arbeit an einer
Gesellschaftstheorie, die in zahlreichen Diskursen
unterschiedlichster Disziplinen als "Systemtheorie" eine
wesentliche Rolle spielt. Die traditionelle Soziologie in ihrer
hierarchisch kategorisierenden Verfasstheit als "Lehre des
Handelns von Personen und Gruppen in der Gesellschaft", wird
durch Luhmanns Theorieansatz als "funktionale
Ausdifferenzierung von Systemen die füreinander Umwelt sind"
gänzlich anders erfasst und neu beschrieben. Ausgehend von
Erkenntnissen der allgemeinen Systemtheorie, die zuerst im Bereich
der Thermodynamik und Kybernetik formuliert und bekannt wurden,
beginnt Luhmann, eine für die gesamte Sozialwissenschaft Geltung
beanspruchende Theorie sozialer Systeme zu erarbeiten. Als Luhmann an
der Universität Bielefeld sein Forschungsprojekt benennen
soll, schreibt er: "Theorie der Gesellschaft, Laufzeit: 30
Jahre, Kosten: keine". Dieser Satz markiert seinen theoretischen
Ausgangspunkt trefflich: Eng mit seiner eigenen Person verbunden,
knüpft er an keine bestehende "Schule" (Tradition)
an. Er sagt:
"Wenn ein Soziologe
gegenwärtig das, was er betreibt, als Theorie bezeichnen will,
muss er sich üblicherweise (...) einer bestimmten
Herkunftsrichtung zuordnen und dieser Stammeszugehörigkeit
entsprechend auch die jeweiligen Totempfähle begeistert umtanzen
(...)". Ein "Totempfahl" der Tradition ist für
Luhmann die naive Verwendung des Begriffs der 'Aufklärung'.
Kants Aufklärungsbegriff als "Ausgang aus
selbstverschuldeter Unmündigkeit" behindert nach Luhmann
eine treffende Beschreibung der modernen Gesellschaft. Als naiv
bezeichnet Luhmann den Glauben daran, dass alle Menschen in gleicher
Weise vernünftig seien und dass richtige gesellschaftliche
Zustände mit Sicherheit hergestellt werden können.
Er meinte 1969, die Soziologie solle 'Aufklärung über
Aufklärung' (Abklärung der Aufklärung) bewirken: "Nicht mehr Belehrung und
Ermahnung, nicht mehr die Ausbreitung von Tugend und Vernunft,
sondern die Entlarvung und Diskreditierung offizieller Fassaden (...)
und dargestellter Selbstüberzeugungen wird zum dominanten
Motiv."
Gelehrtenstreit
In Theorienstreits stehen sich
oft zwei Begriffe (scheinbar) klar und unversöhnlich gegenüber.
Die Geschichte kennt verschiedene Möglichkeiten der Überwindung
solcher Gegensätze: Dogmatik, Vereinheitlichung, Dualität, Komplementarität
und (die vermutlich häufigste): totale Vergessenheit!
Universalienstreit:
Universalisten (Platon):
Vorrang des Allgemeinen contra
Nominalisten
(Aristoteles): Vorrang des Einzelnen
Trinitätsstreit:
Lehre des Arius: Christus
ist geschaffen contra
Lehre des Athanasius:
Christus ist gottgleich
Farbenlehre:
Goethe: Sonnenlicht
gilt als einfach contra
Newton: Spektralfarbe
gilt als einfach
Basaltstreit:
Neptunisten: Basalt ist ein Sedimentgestein contra
Plutonisten: Basalt ist ein Vulkangestein
Teilchen/Welle- Dualität (Komplementarität):
Beobachtung A: Licht als
Welle contra
Beobachtung B: Licht als
Teilchen
Das entscheidende
Begriffspaar für die Theorie sozialer Systeme kristallisierte
sich im interdisziplinären Theorienstreit zwischen Niklas
Luhmann und Jürgen Habermas zu Beginn der 70er Jahre heraus:
Habermas sieht eine Legitimationskrise der Gesellschaft
in der Moderne. Dagegen sieht Luhmann eine Theoriekrise der
Soziologie in der Moderne. Das Begriffspaar des bis heute aktuellen
Theorienstreits lautet: adäquate Theorie contra Legitimation.
Die Gegenüberstellung einiger
Elemente der Habermas'schen Gesellschaftstheorie mit den Ansätzen
der Luhmann'schen Systemtheorie dient der klareren Ausleuchtung des
Luhmann'schen Theorieverständnisses. Sie wird dem Luhmann'schen
Ansatz eher gerecht als dem Habermas'schen, welcher als
"Kontrastmittel" genutzt wird. Diese Folie von
vergleichbaren Antworten auf gesellschaftswissenschaftliche Fragen
sollte im folgenden stets vor Augen bleiben, da sie in jedem Detail
auf die Motivation der Systemtheorie verweist.
Habermas: Sprache als
Träger der Vernunft
Luhmann: Sprache als
wahrheitsindifferentes Vehikel der Kommunikation
Habermas: Begründung der
Gesellschaft
Luhmann: Beschreibung
sozialer Vorgänge
Habermas: Norm als
zu akzeptierendes
Luhmann: Form als
kontingent akzeptiertes
Habermas: Konsens
der Individuen
Luhmann: Akzeptanz der
Differenzen
Das ontologische
"Warum" der Begründung ersetzt Luhmann durch ein
funktionales "Wie" der Beschreibung. Die Gegenüberstellung
zeigt den (vermeintlich) höheren Grad an Abstraktion in Luhmanns
Theoriegebäude. Seine Begriffsbildung bedient sich der
Abstraktion aber zur "Verfremdung des Selbstverständlichen".
Sie ist damit nicht auf Unverständlichkeit aus, sondern geht der
soziologischen Frage nach, wie das Unwahrscheinliche (Ordnung)
wahrscheinlich geworden ist, wohingegen die klassische
Gesellschaftstheorie fragt, wie das Selbstverständliche
(Ordnung) zu bewahren ist. Luhmann beschreibt die Gesellschaft nicht
mit Hilfe des Begriffsapparats der traditionellen Gesellschafts- und
Diskursphilosophie, weil dadurch das für "die Integration
Schädliche oder Nichtanpassungsbereite" unsichtbar gemacht
wird, die Kritik exkommuniziert wird und die dem Projekt der Moderne
entgegenstehenden Hemmnisse als Widerstände erst konstruiert
werden und nicht als Realität verstanden werden können.
Die Kurzdarstellung der Luhmann'schen
Begrifflichkeiten gestaltet sich schwierig. Zur "Abschattung"
seines systemtheoretischen Verständnisses traditionell geprägter
Begriffe geht er der Verwendung verschiedener Termini in der
Geschichte nach. Diese Rucksäcke der Tradition schnürt er
über viele Seiten seiner Arbeit, bis er zum systemischen
Kern des Begriffs für die Betrachtung moderner
Gesellschaften kommt. Erst dort beginnt die folgende Darstellung mit
der Verwendung der Begriffe.
Luhmanns soziologisches
Projekt, welches bis heute etwa 15.000 publizierte Seiten umfasst,
hat sich in mehreren Stufen herausgebildet: Von größter Bedeutung ist die
Beschreibung äquivalenter Funktionsstrukturen von sozialen
Systemen. Anknüpfungspunkt war die Theorie des
Kausalfunktionalismus von Talcott Parsons. Parsons versuchte,
Wirkungszusammenhänge zwischen strukturellen Elementen und dem
sozialen Ganzen (einer faktischen Einheit des Ganzen) in Form von
Funktionen zu konzipieren, z.B. als Interdependenz, Zirkularität
oder Rückkopplung. Diese Analyse konfiguriert Soziales im
Idealfall so, dass aus Struktur A die Funktion B entsteht. Das
Hauptanliegen war das Auffinden nicht substituierbarer und
universeller Systemeigenschaften ("function follows structure").
Diese Rückbindungsversuche ins Universelle wurden von Luhmann
stark kritisiert.
Luhmann kehrt den Schluss
mit weitreichenden Konsequenzen genau um: structure follows
function ! Er versucht aus dem erkenntnistheoretischen Mangel des
Kausalfunktionalismus seine Beschreibungsversuche der "Gründe
des Mangels" zu destillieren. Ging Parsons davon aus, dass
soziale Systeme gewisse Strukturen, Normen oder Werte voraussetzen,
die im weitesten Sinn als "Kultur" verstanden werden können,
ordnet Luhmann den Begriff der Funktion dem der Struktur vor und
gewinnt damit die Möglichkeit, Strukturen selbst zu
problematisieren. Damit wird es ihm möglich, den Begriff des
Sozialen nicht-normativ zu fassen: Ein soziales System besteht
demnach allein aus dem Zusammenhang der aufeinander bezogenen und aufeinander
verweisenden sozialen Handlungen. Luhmann löst mit diesem
Perspektivwechsel die Dichotomie von Funktion und Struktur auf. Sein
Augenmerk gilt der Unterscheidung der Systemtheorie: System und
Umwelt.
Was sind Systeme?
Luhmann: "Es geht immer um die
Differenz von System und Umwelt. Wie reagiert eine Einheit auf alles
andere, welche Grenzen werden gebildet und wie filtern Grenzen die
Information aus der Umwelt, die im System als Information erlebt und
verarbeitet werden. Man hat also mit jedem System sozusagen die ganze
Welt im Blick, aber immer gespalten durch die Differenz von System
und Umwelt."
Systeme kann man in
erster Näherung als einen Zusammenhang von Elementen
beschreiben, deren Beziehungen untereinander quantitativ intensiver
und qualitativ produktiver sind als ihre Beziehungen zu anderen
Elementen.
Alle Elemente des
Systems, die das System in Selbstschaffung (Autopoiesis) produziert,
sind spezifische Elemente dieses Systems. Ihr internes Zusammenwirken
bildet die Charakteristik des Systems. Systeme sind füreinander
Umwelt.
In seinem zuerst 1984 erschienenen Buch "Soziale Systeme
- Grundriss einer allgemeinen Theorie" präsentiert Luhmann
diesen Theorieansatz. Zu Beginn schreibt er: "Die folgenden
Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt. Sie beginnen
also nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel." Luhmann
unterscheidet drei verschiedene Systemarten:
organische Systeme
psychische Systeme und
soziale Systeme.
Die
organischen Systeme stehen genau wie die psychischen Systeme nicht im
Mittelpunkt des Luhmann'schen Interesses. Die Ausklammerung
organischer Systeme aus der Soziologie ist plausibel. Die
Ausklammerung psychischer Systeme ist dem Betrachter einer
klassischen Soziologie nicht so eingängig, macht aber ein
zentrales Moment der Systemtheorie aus. Gesellschaft ist für
Luhmann nicht die Summe aller Menschen sondern Kommunikation. Die Beschäftigung mit
organischen Systemen in der Biologie veranlasste Luhmanns Soziologie
in den 80er Jahren zum Perspektivenwechsel. Er lehnt seine
Systemtheorie an die Überlegungen Maturanas an, vermeidet aber
die soziologische Analogiebildung zu biologischen Mustern. Er zeigt
Parallelen auf, die für die Soziologie fruchtbar sind. Diese
Umorientierung wird auch als autopoietische Wende bezeichnet.
Gemeint ist der, durch den Einfluss der chilenischen Biologen
Maturana und Varela erreichte Paradigmenwechsel in der allgemeinen
Systemtheorie. Er besteht in der Aufnahme des Konzepts der
Autopoiesis (Selbsterzeugung), das der Biologe Maturana zur
Beschreibung vitaler Prozesse entwickelte.
Systeme werden unter der
Voraussetzung als autopoietisch bezeichnet, wenn sie die Elemente aus
denen sie bestehen, durch die Elemente aus denen sie bestehen, selbst
produzieren und reproduzieren.
Autopoiesis ist kein Vorgang im leeren
Raum, sondern bezieht seine materiellen und informationellen
Voraussetzungen aus einer Umwelt, von der sich das System gerade
durch den Akt der autopoietischen Abgrenzung emanzipiert. Systeme
können sich wechselseitig nicht instruieren sondern nur
irritieren. Die "gegenseitige Beeinflussung" von Systemen
erläutert Luhmann mit den Begriffen strukturelle Kopplung und
Interpenetration, mit denen sich ein System die Komplexität
eines anderen erschließen kann.
Beobachtung wird zur
zentralen Operation eines jeden Systems. Die Selbstreferenz
(Autopoiesis) dient der ständig fortlaufenden, rekursiven
Unterscheidung von innen und außen. Die Unterscheidung schattet
(systemimmanent) für das System nicht verknüpfbare
Alternativen ab. Anknüpfbarkeit ist gleichbedeutend mit
Sinn als fortlaufender Aktualisierung von Möglichkeiten. Nur
ans Systeminnere anknüpfbare Alternativen sind für das
System Information. Nichtanknüpfbarkeit ist für das System
nur Rauschen.
Dies ist eine noch nicht abgeschlossene
Stufe der Theorieentwicklung. Sie wird als "Beobachtung zweiter
Ordnung" beschrieben und ist der Kybernetik
entlehnt. Das Interesse Luhmanns gilt den Unterscheidungen, die im
Moment der Beobachtung erst zur Beobachtung führen. Dabei
verfahren Systeme mit dem Mittel der Fremdbeschreibung, die von außen
- von anderen Systemen kommend - im System dupliziert und damit
verständlich wird oder vom System selbst eingebracht werden kann
(re-entry). Systeme haben keinen Umweltzugang, sondern konstituieren
Umwelt entsprechend ihrer Operationsweise.
Systeme duplizieren Anknüpfbares,
produzieren Sicherheit und reduzieren so Komplexität.
Allein Kommunikation - und nicht
Personen! - bilden soziale Systeme. Kommunikation ist die kleinste Einheit
eines Systems. Nicht Menschen (psychische Systeme) kommunizieren.
Kommunikation kommuniziert und findet nur in sozialen Systemen statt,
mögen diese noch so klein oder vorläufig sein.
Kommunikation ist die wahrheitsindifferente Ordnungsebene der
Systeme.
Psychische Systeme denken, soziale Systeme
kommunizieren und schaffen damit Gesellschaft.
Funktionssysteme
Jedes Funktionssystem
erhält sich mittels seiner Operationsweise. Alle Systeme
unterscheiden sich durch ihre je eigenen Operationsweisen
voneinander, die durch einen binären Code strukturiert
sind und Unterscheidungen für das System erst operabel machen.
Die soziale Funktion eines Systems besteht darin, sich von seiner
Umwelt abzugrenzen und dadurch seine Grenzen zu stabilisieren.
Luhmann spricht von einer Doppelfunktion, da die zur Selbsterhaltung
des Systems ständig zu reproduzierende Grenze das System auch
nach außen unterscheidbar macht und damit
Abgrenzungsoperationen anderer Systeme erleichtert.
Das Programm eines
Systems ist alles, was für die Funktion der Zuordnung von
Codewerten zu Beobachtungen bereitgestellt ist. Luhmanns genauste
Milieukenntnis gilt dem Recht. Am Beispiel des Rechtssystems sind es
Gesetze aller Art, die die Anknüpfung von Tatbeständen an
das Rechtssystem ermöglichen. Dazu reproduziert sie die
Tatbestände im Rechtssystem. Das Programm ist kein Formalismus.
Es unterliegt den dynamischen Prozessen jeder Funktion. Die Form des
(Rechts-) Systems ist evolutionär entstanden und bedarf keiner
normativ-universalistischen Rückbindung.
Das Medium des
Systems ist die Mitteilungsfunktion. Im Rechtssystem wäre es das
Urteil, das sich als Kommunikation der Umwelt (der Fremdbeschreibung)
aussetzt.
Die Funktion ließe
sich provokant als Selbsterhalt paraphrasieren.
Die Beschreibung, daß sich die Systeme selbsterhaltend stabilisieren, hat Kritiker dazu bewogen, Luhmann Konservatismus vorzuwerfen. Verständigere Kritiker
sehen in Luhmanns Ausgangspunkt der "Verweigerung
alteuropäischer Traditionen" den Versuch, die Linke im
Vehikel des Humanismus links zu überholen (Norbert Bolz), da Luhmann durch
seine Systembetrachtung jedem mehr Möglichkeiten diesseits der
Theorie zubilligt.
Schema einiger Funktionssysteme
Systeme (in schematischer
Darstellung):
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