URL zu dieser Seite: http://www.humboldtgesellschaft.de/inhalt.php?name=herder


Johann Gottfried Herder (1744-1803)

156. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 17.09.03 von Dr. Michael Zaremba
(Gastvortrag)
Christliche Religiosität und humanitäres Nationsverständnis bei Johann Gottfried Herder

Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der
evangelischen Kirchengemeinde Wannsee


Der Referent hat zum Herderjahr 2003 in Kooperation mit der Stiftung Weimarer Klassik im Verlag Böhlau eine Biografie veröffentlicht:

"Johann Gottfried Herder - Prediger der Humanität. Eine Biografie"


Zum Geleit:

Herder ist aus vielerlei Gründen alles andere als ein einfacher Forschungsgegenstand. Herders Werk durchmißt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen und bleibt oft Fragment. Der persönliche Umgang mit Herder riß einen Weimarer Zeitgenossen zu folgender Bemerkung hin: Man ging nicht zu ihm, ohne sich seiner Milde zu erfreuen. Man ging nicht von ihm, ohne verletzt zu sein. Der Freund Jean Paul klagte, daß es um Herders Werk so "tyrannisch still" sei.
Wir freuen uns, Herrn Zaremba als Gastredner gewonnen zu haben, um dieser "Stille" entgegenzuwirken. (Der Referent hat der Humboldt-Gesellschaft Auszüge seines Vortrags zur Verfügung gestellt.)


Auszüge des Vortrags

Michael Zaremba (Berlin)


Von Beginn an fasziniert von Herders theologischen Gedanken, die das Humane zum Zentrum haben, bezauberten mich ebenso die facettenreichen Nuancen seines Stils. Allerdings wird die Klarheit seiner Aussagen häufig von einer gleichsam eruptiven Sprachgewalt in den Hintergrund gedrängt, die den Leser durch einen authentisch-urwüchsigen, an Luther erinnernden Bilderreichtum belohnt. Bald verstand ich den Geistlichen als Politosophen, der das Individuelle mit dem Gesellschaftlichen verbindet, die Gotteslehre mit dem Anspruch von Menschlichkeit gleichsetzt.

Die Vita Johann Gottfried Herders kann in diesem Vortrag nur ansatzweise skizziert und interpretiert werden. Ich nutze diesen Vortrag, um aus der Sicht des Biografen einige resümierende Gedanken und Denkanstöße zum Leben und Werk des Predigers zu äußern - und zwar mit dem besonderen Blick auf die christliche Religiösität und das Nationsverständnis Herders, die beide eng mit seinen philosophischen, naturwissenschaftlichen, historischen, sozio-politischen Überlegungen verbunden sind.

Bei Herder ist das Pathos ein ständiges Ingrediens des Schreibens, sein Charakter ist deutlich im Werk gespiegelt. Er trug selten eine Maske, anonym publizierte Schriften verrieten den Verfasser durch die schwunghafte Manier, auch das Filtern von Gefühlen war seine Sache nicht. Das Anliegen "Menschlichkeit" blieb für ihn lebenslang unveränderlich, nur die Sichtweise änderte sich: Humanität, ein fragiler Leitwert, der an jeder alltäglichen Bosheit scheitert und doch immer wieder aufkeimt, war sein Credo, welches das Profane mit dem Himmlischen verband. Er sah wie Jakob die Himmelsleiter, das Dingliche war ihm Gleichnis des Transzendenten.

Herder war zugleich Visionär und Zürnender, Gotteseiferer und Ketzer, Freigeist und - in späten Jahren - Verstockter. Er steht im Schatten der anderen Klassiker, Gründe dafür gibt es viele: Seine Werke sind nur schwer dem schulischen Kanon zuzuordnen. Im allgemeinen Bewusstsein verankerte Schriften wie das Faustdrama oder "Wilhelm Tell" kann er nicht vorweisen, was zum Verblassen der Erinnerung beiträgt. Er war Universalgelehrter barocker Prägung, vermengte pure Wissenslust mit emotionalem Schwung, der den trockenen Stoff als persönliches Material nahm.

"Ich bin kein Dichter" (Brief vom 25. November 1795) schrieb er protestierend an Friedrich Schiller, der ihn als solchen in einer ästhetischen Abhandlung bezeichnet hatte. Ein erstaunlicher Hinweis, zumal Herders poetische Werke mehrere Bände der Suphanschen Werkausgabe füllen. Johann Gottfried Herder war Intellektueller, Kritiker, zuweilen ein in glutvollen Bildern schwelgender Poetheologe. Zwar vermochte er fremde Schriften mit feinem Gespür zu zergliedern, aber seine Gedanken verdichteten sich fast nie zu einem abgerundeten Kunstwerk. Er verstand sich als Prediger, Gelehrter und Pädagoge mit dem Charisma eines geistigen Anregers par excellence, dessen überragendes wissenschaftliches Potenzial die Kenntnis der meisten Zeitgenossen in den Schatten stellte. Der Geistliche war zwar vorrangig kein Dichter, aber er war Forscher mit dichtender Diktion, ein poetischer Enzyklopädist, was freilich manche Unschärfe seiner Argumentation begünstigt.

Auffällig ist die Unabgeschlossenheit seiner Werke: Die Ursachen für das Fragmentarische sind der ständige Fluss der Gedanken und die Tendenz zu interdisziplinären und multiperspektivischen Aspekten. Sämtliche "Fragmente" Herders ergänzen einander zu dem Lebensprojekt einer Universalgeschichte der Wissenschaften. Besonders in der Bückeburger Zeit, also von 1771 bis 1776, ist ein Simultanschaffen nachweisbar, das Abzweigen von Textpartien für gleichzeitig entstehende andere Schriften. Beim Verfassen des Textes ergaben sich neue Fragen, die in einer anderen Studie und in einem anderen Zusammenhang untersucht werden mussten. So entstanden sprachlich virtuose Abhandlungen höchster stilistischer Reife, deren poetische, metaphernreiche Prosa oft den schmalen Grat zwischen Wissen und Vision wandelt. Die zahlreichen ästhetischen, geschichtsphilosophischen, philologischen und theologischen Untersuchungen zeigen ihn als einen an der englischen Frühaufklärung geschulten Essayisten.

Häufig wird sein Selbstverständnis als Pädagoge übersehen, denn erzieherische Meriten sind schwer nachprüfbar, und schulpolitische Reformvorschläge oder didaktische Schriften fördern kaum die Popularität ihres Verfassers. Herder verstand sich jedoch als Erzieher, das Dozieren und der Einsatz für Menschlichkeit galten ihm als zwei Seiten einer Medaille.

Lebenslang litt er unter dem Konflikt zwischen der Funktion als kirchlicher Amtsträger, Pädagoge und Gelehrter. Geistliche, die als Homme de lettres auftraten, gab es viele, aber Herder distanzierte sich mit seiner Ablehnung der Theorie vom göttlichen Ursprung der Sprache und mit seinem Bekenntnis zur Aufklärung zu deutlich von der protestantischen Orthodoxie, um nicht als Freigeist diskreditiert zu werden. Diese Einsicht verstärkte den Drang nach einer Professur an einer liberalen Hochschule, und es ist möglich, dass er - wäre er der Berufung gefolgt - an der Göttinger Alma Mater zufriedener als in Weimar gelebt hätte.

Neben der urwüchsigen, verträumten Landschaft Ostpreußens und der wirtschaftlichen Kargheit prägte den jungen Herder, der lebenslang einen träumerischen Hang bewahrte, die Sprache der Bibel, gefühlsbetont interpretiert durch pietistische Frömmigkeit. Pietismus - von lateinisch pietas, was sowohl pflichtgemäßes wie frommes Handeln bezeichnet -, war in Deutschland eine seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bestehende protestantische Bewegung, die in Opposition zur herrschenden lutherischen Orthodoxie und zum Rationalismus stand. Spirituelles Gemeinschaftserlebnis und individuelle Erweckungserfahrung, Tatchristentum und mystische Versenkung, Bibelstudium und Anrufung des Herrn durch Lobgesang waren die Pole, um die eine pietistische Lebensauffassung kreiste. In einigen Teilen Europas, zum Beispiel im streng lutherischen Schweden, waren die Pietisten dem Staatskirchentum verdächtig und wurden verfolgt. England, die Niederlande und Preußen schützten die Lehre.

In der Vorrede zu einem Gesangbuch distanzierte Herder sich allerdings ausdrücklich von pietistischer Bigotterie. Er schreibt, "daß es z. B. keine Frömmigkeit sey, mit dem Namen Jesulein, oder mit einem andern Namen unsres hochgelobten Erlösers, mit seiner Krippe und Windeln, mit seinem Blut, Striemen und Wunden zu tändeln, daß die unseligen Uebertreibungen der Buß-Aengste nach mißverstandenen Worten einiger Psalmen eben so unevangelisch, als unwahr seyn, wenn sie von einem rohen oder fröhlichen Haufen gesungen werden." (SWS XXXI, 719) Trotz dieser kritischen Worte darf nicht übersehen werden, dass die pietistische Erziehung mit Bibel und Gesangbuch, vorgetragen von einer jugendlichen Mutter, sowie die kindliche Erfahrung der lutherischen Gottesdienste wichtige Pfeiler seiner Ideenwelt und Sprache wurden.

In Jugendjahren oft in trägen Gedankenträumen versunken, war er vom dritten Lebensjahrzehnt an bemüht - trotz aller spontanen Brüche, die sein Leben aufweist - in bürgerlichen Bahnen zu wandeln. Nach der Glanzzeit in Riga und der Odyssee der Reisejahre mutierte er zum verlässlichen Familienvater, tauschte er die juvenile Freiheit gegen familiäre Bindung und widerlegte damit jene Skeptiker, die seine Braut Caroline vor der Heirat des unbeständigen Predigers gewarnt hatten.

Ehefrau Caroline hielt unbeirrt zu Johann Gottfried, als dieser in späteren Jahren vom liebenswürdigen Galan zum notorischen Hypochonder und Querulanten mutierte. Sein Krankheitsbild, auf dessen Schilderung die Biografie besonderen Wert legt, war vielfältig. Auch neigte er zu Boshaftigkeiten und Sticheleien gegen Personen, die ihm nahe standen. Diese missliche Verhaltensweise, unter welcher auch der junge Goethe litt, war Ergebnis einer prekären charakterlichen Mischung aus Selbstüberhebung und einem cholerischen Temperament, dessen Wurzeln neben sozialen Gründen auch in den nahezu permanenten Schmerzen seiner Tränenfistelerkrankung und anderen Leiden lagen.

Trotz langjähriger Freundschaften - zu Hamann, Verleger Hartknoch, Gleim, Jean Paul, Goethe, Wieland und Jacobi - blieb Herder jedoch Einzelgänger, der seine intellektuellen Bedürfnisse mehr durch Lektüre und Korrespondenz als durch persönlichen Umgang befriedigte. Berechnend war er nicht, sonst hätte er bereits in seiner Jugendzeit statt ästhetischer und philologischer Studien orthodox-religiöse Schriften verfasst, die seine berufliche Laufbahn begünstigt hätten. Im Alter entstanden hingegen, trotz schlechter Honorierung, mit Vorliebe theologische Traktate. Auch Ehrenbezeugungen und Titel galten ihm wenig, denn er war ein bescheidener Mann, dessen Ehrgeiz sich an geistiger Auseinandersetzung entfachte; gleichwohl kränkte ihn die Verweigerung der Nobilitierung durch den Landesherrn.

Den literarischen Schaffensprozess empfand Herder als seelisch heilsam, aber er reagierte empfindlich, ja zuweilen idiosynkratisch auf Kritik, was ihm häufig das Schreiben verleidete und in den frühen Jahren ein vergebliches Beharren auf Anonymität seiner Schriften bewirkte. In Riga ließ er sich sogar entgegen der Wahrheit (und wenig christlich, gegen diverse Bibelsprüche verstoßend) zum öffentlichem Verleugnen seiner Autorschaft der "Kritischen Wälder" hinreißen, aber mit zunehmendem schriftstellerischen Selbstbewusstsein bekannte sich der Prediger als Autor.

Trotz ständigem geistigem Schöpfertum und intellektueller Regsamkeit darf nicht übersehen werden, dass Herder sich ab dem mittleren Lebensalter in eine dienstliche Arbeitswut steigerte, die seine Kreativität ernsthaft beeinträchtigte. Besonders in Weimar vertiefte er sich häufig derart in seine Amtsgeschäfte als Oberhofprediger, Oberkonsistorial- und Kirchenrat, Generalsuperintendent, Pastor primarius zu Weimar, Ephorus der Gymnasien sowie sämtlicher Landesschulen, dass er nicht einmal während gesundheitlicher Krisen davon abließ. In der intensiven Ausübung seines Berufes fand der geplagte Geistliche einen gleichsam zwanghaften Ausgleich zu seiner Ruhelosigkeit, die auf depressive Verstimmung hindeutet. Sein Wesen zeigte Herzensgüte, anerkannte er doch neidlos die Vorzüge anderer. So wurden Goethes überlegene Talente von ihm gewürdigt, gleichwohl kritisierte er dessen dezidierten Ästhetizismus, den der Freund insbesondere nach der Rückkehr von der Italienreise an den Tag legte. Herder, zeitlebens Aufklärer, blieb stets skeptisch gegenüber einer Kunst, welche die Moral vernachlässigt; politisch-sittliche Reflexionen gehörten für ihn integral zum Kunstwerk. Er verstand sich - ähnlich wie Hamann - als Opposition innerhalb der Aufklärung, in der er tief verwurzelt war und deren Repräsentant er gegen die modernen Zeitströmungen blieb.

Hauptquellen von Herders aufgeklärtem Patriotismus waren die pietistische Erziehung, das historische Interesse und der Humanitätsgedanke. Die Vielfalt seiner geschichtsphilosophischen, sozio-politischen und sprachphilosophischen Überlegungen machten ihn hellhörig gegen jeden Nationalwahn. Menschlichkeit bedeutete für Herder keine dichterische Metapher: Sein Bekenntnis zur Humanität entwickelte sich von einem ästhetischen und geschichtsphilosophischen zu einem eminent politischen Verständnis, das insbesondre nach dem Terror der Französischen Revolution wie auch der Konterrevolution an Brisanz zunahm. Häufig wurde der konkrete Aussagewert des Begriffes Menschlichkeit in Frage gestellt, und tatsächlich ist ein Element der definitorischen Unschärfe in ihm enthalten, aber diese Unwägbarkeit ist für Herder ein Gradmesser seiner moralischen Qualität und ständiger Anlass zur Reflexion.

Herder hat den aufgeklärten Kosmopolitismus überwunden und durch nationale Inhalte ersetzt, aber den für Nationalismus entscheidenden Faktor, den Ausschließlichkeitsanspruch der Loyalität zur Nation vor allen anderen gesellschaftlichen oder religiösen Bindungen, ist bei ihm nicht festzustellen, zumal er frühzeitig die Gefahr hybriden Nationalstolzes erkannte. Er trat für einen geläuterten Patriotismus ein, denn:

"der Patriotismus muß sich notwendig immer mehr von Schlacken reinigen und läutern. Jede Nation muß es fühlen lernen, daß sie nicht im Auge Andrer, nicht im Munde der Nachwelt, sondern nur in sich, ins sich selbst groß, schön, edel, reich, wohlgeordnet, thätig und glücklich werde; und daß sodann die fremde wie die späte Achtung ihr wie der Schatte dem Körper folge." (SW XVIII, 270)

Neben dem pietistischen Einfluss sowie dem historischen Interesse, welche die Grundlage seines politischen Denkens bilden, tritt bei Herder eine dritte Komponente hinzu: die Humanitätsphilosophie. Das lateinische Wort "humanitas" wird durch "Menschennatur, Menschlichkeit, menschliche Würde, menschliches Gefühl", aber auch durch "Menschheit, menschliche Gesellschaft" und "feinere höhere Bildung und Geschmack" übersetzt. Das seit dem 16. Jahrhundert eingedeutschte Wort "Humanität" und das Adjektiv "human" (=menschlich, menschliches Wesen und Gefühl, menschenfreundlich, leutselig) erhielt allerdings erst im 18. Jahrhundert einen wichtigen Stellenwert und wurden schließlich von Herder philosophisch begründet. Das Zedlersche Lexikon aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert versteht Humanität lediglich als "Höflichkeit und Leutseligkeit" - ein typisches barock-courtoises Verständnis des traditionsreichen, in der Antike verwurzelten Begriffes. Herder hat das Humanitätsdenken endgültig dem Oberflächlichen entrissen, es aber nicht antikisch restauriert, sondern mit neuen Inhalten erfüllt.

Bei der methodisch relevanten Frage, wo der Humanitätsbegriff im Werk eingeordnet werden kann, bietet sich als Antwort Herders Nationsverständnis an: Die Harmonie von Humanität, Patriotismus und Christentum ermöglichte (noch) einen ungezwungenen Umgang mit der explosiven Formel Nation: Herders Idee einer kulturellen und politischen Integration der Deutschen ist nur im Zusammenhang mit der Humanitätsphilosophie angemessen deutbar. Wir wissen, dass bereits in der Folgegeneration der Humanitätsgedanke starke Gegner fand.

Ohne Herder für eine politische Richtung zu reklamieren, kann festgestellt werden, dass viele seiner Forderungen vom Frühliberalismus aufgenommen wurden. Dazu gehören der Wunsch nach Freiheit von Despotie und Staatswillkür ebenso wie eine politische Philosophie, deren republikanische Vorstellungen von den britischen und nordamerikanischen Verfassungen beeinflusst sind. Auch Leitbegriffe wie das Individualitätsprinzip und der Evolutionsgedanke weisen in diese Richtung. Gleichwohl verlauten in seinem Spätwerk "Adrastea" vereinzelt bedenklich restriktive Forderungen, die sich nicht zu seinem freisinnigen Grundton fügen. Diese betont konservativen Ressentiments resultierten aus der Abwehr eines sich durch neue geistige Strömungen wie dem Kantianismus bedrängt fühlenden Geistlichen, der um die Zukunft seines Glaubens wie um die moralische Integrität seiner Schüler besorgt war.

Denn auch Herders Theologie speist sich aus dem Humanitäts- und Individualgedanken: Der Einzelne, unabhängig von kirchlichen Institutionen und Dogmen, steht in unmittelbarem gefühlsmäßigen Bezug zu Gott und verwirklicht seinen Glauben durch den praktischen Einsatz für Menschlichkeit. Predigten, Katechismen und theologische Untersuchungen Herders bekunden ein ökumenisches Weltbild, das die Einheit des Christentums im Glauben an den Erlöser und in einer überkonfessionellen religiösen Humanität sieht, die als einzige Autorität das Evangelium anerkennt.

Die Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 bedeutete Herders endgültigen Durchbruch von der Philologie zur Historie und Theologie. Mit emotionalen Duktus beschwört er den Individualitätsgedanken, den Gang Gottes über die Nationen! (SWS V, 565), versteht er den Einzelnen eingebettet in eine Gemeinschaft, die ihrerseits eine organische Ausformung des Gotteswillens darstellt: "Jede Menschliche Vollkommenheit [ist] National, Säkular, und am genauesten betrachtet, Individuell. Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt." (SWS V, 505)

Interjektionen, organologische Metaphern und umfassende geschichtsphilosophische Visionen kennzeichnen den eigenwilligen Stil der Schrift. Herder polemisiert gegen den vernünftelnden Zeitgeschmack und sieht die Zukunft der Aufklärung in der dialektischen Verbindung von Subjektivismus und Rationalität. Postuliert wird eine undogmatische Theologie, die - echt lutherisch - Gefühle und Empfindungen des Subjekts mit einbezieht, deren Wahrheit sich unmittelbar aus der Bibel speist. Die Bückeburger Geschichtsphilosophie ist wie die Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, deren erster Band ebenfalls 1774 erschien, von einer Ausdruckskraft geprägt, die dem gesprochenen Wort nahe steht. Beide Schriften sind historische Predigten, vorgetragen mit einer bis dahin unbekannten sprachlichen Verve. Ein gelehrt-trockenes Idiom ist Herder fremd: Die Emphase des Autors schwingt in jedem Wort mit - eine Diktion, die nicht ohne Kritik bleiben sollte.

Auf Drängen des Verlegers arbeitete Herder die vergriffene Bückeburger Schrift Auch eine Philosophie zur Geschichte der Menschheit zu einer Neuauflage um, aber unter der Feder weitete sich der Text erheblich. Während Herder am zweiten Teil der Hebräischen Poesie schrieb, hatte er aus naturwissenschaftlichen Schriften und Reisebeschreibungen Material für ein Opus magnum gesammelt, das eine Gesamtschau der Geschichte von den kosmologischen Ursprüngen der Welt bis zur neuesten Zeit bieten sollte: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Das universalhistorische Werk, eine Einheit von Anthropologie, Ethnologie, Geografie, Geschichtswissenschaft und Klimatologie anstrebend, reflektiert nahezu den gesamten Wissensstand seiner Zeit. Was Herder bereits am Beginn der Arbeit spürte, bewahrheitete sich in den folgenden Jahren: Während der Niederschrift entstand eine gleichsam enzyklopädische Darstellung der menschlichen Geschichte in sprachlich reifer Einheit von Form und Gesinnung. Er empfand das neue Werk, welches unter seiner Feder anschwoll, gleichsam als Zusammenfassung aller vorherigen Studien. Frühzeitig zeichnete sich ab, dass die Ideen das lang ersehnte Hauptstück, die Krönung seines literarischen Schaffens werden könnten, gleichsam ein Resümee seines Denkens und Wirkens, eine Geschichte der "Humanität" oder der Kultur.

In den Ideen dient Humanität als teleologischer Leitbegriff zur Beschreibung des Zweckes der menschlichen Natur. Allerdings dient der Humanitätsgedanke nicht nur dem Autor als geschichtsphilosophische Leitvorstellung, sondern auch die Leserschaft soll ein humanitäres Vorverständnis in die Lektüre einbringen und auf Besserung von Mängeln hinwirken (vgl. SW XIII, 6). Vor allem im fünfzehnten Buch (SWS XIV, 204-252) avanciert die Humanitätsidee zu einem historischen Gesetz: "Humanität ist der Zweck der Menschen-Natur und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben." Der Ablauf der Weltgeschichte zeigt, "daß mit dem Wachsthum wahrer Humanität auch der zerstörenden Dämonen des Menschengeschlechts wirklich weniger geworden sei; und zwar nach innern Naturgesetzen einer sich aufklärenden Vernunft und Staatskunst." (SWS XIV, 207; 217) Die Einführung der Humanitätsidee in die historische Betrachtung sprengte die Konventionen der Geschichtswissenschaft, zugleich bot der definitorisch unscharfe Leitbegriff eine Angriffsfläche für die kritische Vernunftlehre.

Die Arbeit an seinem Hauptwerk ging nur schwer von der Hand: "Ich brüte über den Ideen; aber es rückt sich nicht von der Stelle." (Brief vom 20. Dezember 1784) In diese Phase der Schreibhemmung traf die Rezension des ersten Teils der Ideen durch seinen vormaligen Lehrer Kant wie ein Keulenschlag: "Die Allgemeine Literatur-Zeitung" veröffentlichte Januar 1785 eine spöttisch-herablassende Buchbesprechung durch den inzwischen zu höchsten akademischen Ehren aufgestiegenen Königsberger Philosophen. Ironisch weist Kant auf Herders "kühne Einbildungskraft hin, [die] verbunden [sei] mit der Geschicklichkeit, für einen immer in dunkeler Ferne gehaltenen Gegenstand durch Gefühle und Empfindungen einzunehmen." Sarkastisch zerpflückt der Professor für Logik und Metaphysik Herders kunstvoll konstruierte Analogieschlüsse, wobei der Königsberger es nicht unterlässt, maliziös auf den Predigerberuf Herders hinzuweisen, der trotz der "so oft verengenden Bedenklichkeiten seines Standes" immerhin zu großen Entwürfen fähig sei. Dieser Schlag traf ins Mark, zumal, wie Herder spürte, die Kritik nicht unberechtigt war.

Was sich bereits in seinen Studienjahren im Verhältnis zum Königsberger Philosophen abgezeichnet hatte, kam in der Auseinandersetzung um die "Ideen" voll zum Tragen: Kants kritisch-präzise Rationalität traf auf Herders oftmals intuitiv-poetische Weltsicht, welche sich nicht scheute, die Humanitätsidee als anthropologisch-historisches Naturgesetz zu deuten. Tatsächlich stilisierten die "Ideen" zeitgenössische Forschungsergebnisse zu naturwissenschaftlich-philosophischen Predigten, die geschickt und suggestiv zwischen Faktenreichtum und Hypothetik oszillieren. Solche definitorische Unschärfe musste vor Kants schonungslos rationaler Kritik scheitern, und auch eine von Wieland umgehend lancierte anonyme Apologie der "Ideen" durch den späteren Kantianer Carl Leonhard Reinhold konnte für Herder die "schiefe geheime Bosheit" (Brief von Ende Januar 1785) der Kantschen Invektive nicht mindern.

Der ursprünglich geplante fünfte Teil der "Ideen", der sich mit der neuesten Geschichte befasst hätte, blieb ungeschrieben - also auch Herders Hauptwerk ein Fragment. Der Autor spürte, dass angesichts der radikalen politischen Entwicklungen im Zuge der Französischen Revolution die Fortsetzung seiner Hauptschrift in der bisherigen Form nicht möglich sei. Eine den aktuellen Begebenheiten angemessene literarische Ausdrucksform fand Herder in einem Briefwechsel zwischen fiktiven Angehörigen eines "Bundes der Humanität". Am 27. April 1792 wies Caroline, die sich immer mehr in die Rolle seiner Managerin und Sekretärin einlebte, erstmals auf eine Schrift hin, die den Titel "Briefe, die Fortschritte der Humanität betreffend" führen sollte. Das Werk versuchte die Darstellung der "Fort- oder Rückschritte der Humanität in älteren und neueren, am meisten aber in denen uns nächsten Zeiten" (SWS XVII, 5). In einem Brief an Gleim beschrieb Herder das politisierte ästhetische Konzept der neuen Schrift: "Mich intereßirt die Stimme der Muse sehr, wenn sie über die acta et facta der Welt, von denen Wohl u. Weh abhängt laut zu reden oder zu singen wagt, u. sich in das Pauken- u. Trommelgetön, in die Thorheit u. Weisheit öffentlicher Verhandlungen mischet." (Brief vom 28. Mai 1792)

Caroline bekannte sich als Anhängerin der Französischen Revolution; enthusiastisch schrieb sie von der "Sonne der Freiheit" (Brief vom 11. November 1792), die bald über der gesamten Menschheit aufgehe. Der vorsichtige Gatte stellte indes im selben Brief mäßigend fest, dass Caroline durchaus "nicht am Freiheitsschwindel" leide, sondern "in terra obedientiae eine gute Deutsche" sei. Herders Manuskript der unveröffentlichten ersten Sammlung der "Humanitätsbriefe" war jedoch von unverhohlener Sympathie für die revolutionären Ereignisse geprägt. Erst die Enthauptung des französischen Monarchen im Januar 1793 stieß auf entschiedene Ablehnung.

Die in der Revolution verübten Gewalttaten widersprachen zutiefst seinem Verständnis von Menschlichkeit, hatte sich doch gezeigt, dass die Freiheits- und Nationsidee schnell eine aggressive Gestalt annehmen kann: "Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unsres Geschlechtes. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unabläßig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Thierheit, zur Brutalität zurück." (SWS XVII, 138). In dieser prekären politischen Situation bekannte sich Herder zu einem aufgeklärten Patriotismus, als Ideal galt für ihn die friedliche Einrichtung einer republikanischen Verfassung mit einer gedeihenden politischen Kultur. Vorbildlich erschienen ihm die Ideen des liberalen englischen Staatstheoretikers John Locke, insbesondre dessen Entwurf einer Konstitution der amerikanischen Provinz Carolina, sowie das britische Verfassungssystem (vgl. SWS XXIII, 132-135, 156-161).

Johann Gottfried Herder war ein Homo politicus oder Politosoph, der sich nicht vor der Verbalisierung unbequemer Wahrheiten scheute; im Eifer des literarischen Schwunges leistete er sich häufig antifeudale Invektiven, die der Selbstzensur oder dem freundschaftlichen Rat Goethes zum Opfer fielen. Gleichwohl fungierte Herder in seinem geistlichen Amt als Bestandteil des staatserhaltenden Systems, was aufgrund seiner Revolutionssympathien mit inneren Konflikten verbunden war. Ein grundlegendes Problem seines Charakters bestand darin, dass er sich den Herrschenden nur schwer unterordnen konnte. Mit dem Bückeburger Graf Wilhelm kam es zum ernsten Dissens. Und die peinlichen Umstände seiner Nobilitierung bekunden deutlich die Ablehnung des rebellischen Generalsuperintendenten durch den Weimarer Herzog.

Herder galt als aufrichtig und glaubwürdig, aber auch als Heißsporn und - in späten Jahren - als Hypochonder. Infolge seines unausgeglichenen Charakters schwankte oft seine Stimmungslage, und ein ausgeprägter Eigensinn - möglicherweise Erbteil seiner ostpreußischen Herkunft - bestimmte sein Verhalten, das er selten kaschierte. Verglichen mit dem allerdings fünf Jahre jüngeren Goethe alterte Herder vorzeitig. Der Charme, den er einst ausstrahlte, war in späten Jahren unter einem Berg von Selbstmitleid, Schwermut und Starrköpfigkeit verschüttet. Im Alter schien er eine gleichsam selbstquälerische Lust am hoffnungslosen Kampf und gezielter Düpierung von Bekannten und Freunden zu finden. Der Kampf gegen die kritische Philosophie und andere zeitgenössische Strömungen war indes keineswegs Ausdruck geistiger Erstarrung; vielmehr handelte es sich um eine Wiederbelebung seiner Jugendjahre, als er schon einmal gegen einen anscheinend übermächtigen Literaturpapst namens Christian Adolf Klotz focht. Polemik war wie bei Hamann oder Lessing für seine Schriftstellerei charakteristisch. Im Alter mangelte ihm allerdings die juvenile Anziehungskraft und der Humor, denn er trug den Disput mit bitterernster Miene aus. Es ist ein bezeichnender Hinweis darauf, wie der späte Herder sich selbst überlebt hatte, dass sein Tod in der Gelehrten- und Literatenwelt weitaus weniger beachtet wurde als der Lessings.

Das Panorama von Herders Leben zeigt einen cholerischen, rebellischen Charakter, der seine Zeitgenossen nicht selten mit überraschenden Entschlüssen vor den Kopf stieß. Wie ein Schlaglicht leuchtete der Geist, wenn er mit intellektuellem Gespür Neues erkannte, aber Blitz und Donner konnten ohne Rücksicht auf Stand und Würden jene treffen, die seinen Einsichten im Wege standen. Er wagte es, Ungewöhnliches zu denken und ans Tageslicht zu bringen, denn er wollte sowohl die Unwetter wie auch die Sonnentage der menschlichen Geschichte verstehen und das elfte Gebot predigen.

Sein Denken glich einer barocken Fuge, deren klangreiche Stimmen sich aus Glauben, Forscherdrang und aufgeklärter Hoffnung zusammensetzten. Dabei waren ihm die Schrecken der Gegenwart ebenso bekannt, wie er jene der Zukunft ahnte. Aber er vertraute der durch menschliche "Vernunft und Billigkeit" wirkenden göttlichen Instanz und dem Evangelium, dessen Autorität er bei seinen Zeitgenossen zunehmend schwinden sah. Im Kern seiner Existenz glühte der lutherische Glaube: Wahrhaftigkeit gilt mehr als Courtoisie, Überzeugungstreue steht höher als Verbindlichkeit. Der streitlustige Prediger erhob sein Haupt nicht in den Himmel, sondern neigte es dem Irdischen zu und schüttete kaum verhohlene Verachtung auf die Herrschenden, die es ihm arg vergalten.

Oft stand er sich selbst im Weg, aber dieses Unbehagen war eine der Triebfedern seiner Prosa, die aufrichtige Worte des Zornes und der Hoffnung kennt. Das ständige Ringen um den sprachlichen Ausdruck von religiösen Ahnungen und Überzeugungen in den verschiedenen Lebensphasen irritiert zuweilen, so dass der Leser Texte unterschiedlicher Autoren vermutet. In den gediegensten Textpassagen stimmt er das Hohelied des menschlichen Individuums und des allgewaltigen Gottes an, dann schießen Sprachkraft und Begeisterung für das Menschlich-Göttliche gleichsam zu Lautkristallen zusammen.

Hören wir Herders Gedanken zum Thema Humanität und Nation. Die folgende Textpassage entstammt der vierten Sammlung der "Briefe zu Förderung der Humanität" (SWS XVII, 211):

"Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garte voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Thorheiten und Fehlern so wie von Vortreflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen, und wenn es eine bloße Meinung von Seelenkräften oder Verdiensten gilt, für diese Dulcinea gegen andre Nationen den Speer brechen? Lasset uns, so viel wir können, zur Ehre der Nation beitragen; auch vertheidigen wollen wir sie, wo man ihr Unrecht tut; sie aber ex professio preisen, das halte ich für einen Selbstruhm ohne Wirkung... Offenbar ists die Anlage der Natur, dass wie Ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem andern lerne, unaufhörlich lerne, bis alle endlich die schwere Lection gefasst haben: "kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit muss von allen gesucht, der Garte des gemeinen Bodens von allen gebauet werden. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken." Den Deutschen ists also keine Schande, daß sie von anderen Nationen, alten und neuen, lernen. Das alte Vernunfttestament, wie der Autor die Weisheit der Griechen nennt, ist gewiß nicht verjährt, noch durch die Weisheit der Neuern unkräftig gemacht worden. So darf sich kein Volk Europa`s vom andern abschließen, und thöricht sagen: bei mir allein, bei mir wohnt alle Weisheit. Der menschliche Verstand ist wie die große Weltseele; sie erfüllt alle Gefäße, die sie aufzunehmen vermögen; belebend, ja selbst neuorganisierend dringt sie aus allen in alle Körper."

Herder war Prediger der Humanität in einer Epoche, in welcher der Begriff Menschlichkeit als Phrase galt, ja verlacht wurde. Aber seine christlich Weltsicht fundierte zugleich eine moderne Existenz, denn Herders Denken und Wirken glomm wie ein Funken an der Wegscheide zur Moderne: In religiöser und epistemologischer Hinsicht mit dem Spätmittelalter und Barock sympathisierend, nahm er in seiner schonungslosen Offenheit den Individualismus vorweg, denn seine Briefe und Schriften kehrten oft sein Innerstes nach außen, Wahrhaftigkeit galt ihm als Maßstab. Doch stets schwingt in seiner Diktion außer dem Faktischen und dem Traumhaften ein feiner Hauch mit, der das Getrennte vereint und mit Grazie bedeckt.